Schallplatte mit Volker Rebell Beschriftung

Texte

Auf dieser Seite folgen nach und nach Texte, Beiträge, Artikel, die irgendwo veröffentlicht wurden, oder einfach so aus Lust und Laune von mir geschrieben wurden.

„Schlimmer geht's immer" oder: „basstscho!" - eine Kurzgeschichte über meine
Erlebnisse in einer Unfallklinik in Österreich (Februar 2019)

Eindrücke vom Konzert des Jazz-Chores SOUNDSATION am 04.11.17 in Neu-Isenburg

Fats Domino Nachruf - und Erinnerung an ein großartiges Tribute-Album

Wo war ich, als Elvis starb? - Beitrag für die Frankfurter Neue Presse zum 40. Todestag von Elvis Presley am 16. August 2017 (lange, ungekürzte Fassung)

Leonard Cohen Nachruf

Prince Nachruf

Laudatio auf Thomas Langer

Sing Hallelu-Ja! Es umweihnachtet uns sehr - zum 25.12.2013

"Jocco Abendroth" - zum 60. Geburtstag

"Indorock" - Beitrag zu einer Zeitschriftenveröffentlichung

Interview zur WDR-TV-Doku "Die Beatles kommen" (Ausschnitte gesendet am 02.11.12)

"Hundertwasser", Einführende Worte zur Vernissage am 24.11.11 in der Galerie am Dom, Wetzlar

"Mani Neumeier", Vorwort zum Mediabook "Werkausgabe"

"IMAGINE John Lennon", Interview zur gleichnamigen Tour

"Faszinosum Open Air", Beitrag für die Deutsche Welle

"Frank Zappa", Ausschnitt aus Rock-Session 1

"Diamonds - an orchstral tribute to the the Beatles" - Linernotes zur DVD/CD der Beatles Revival Band

"Mutter Marias weise Worte" - Anmerkungen zum Song "Let It Be" (Artikel für eclipsed)

"Das Walross, Ahnherr des Artrock?" - Artikel für das Rock-Magazin eclipsed

"Das musikalische Weißbuch der Sixties" - Anmerkungen zum Weißen Album der Beatles (Artikel für das Rock-Magazin eclipsed)

"Variationen über die Liebe"

 

„Schlimmer geht's immer" oder: „basstscho!"

Erlebnisse in einer Unfallklinik in Österreich - von Volker Rebell

„Du blöder Hund, warum konntest du nicht besser aufpassen? Du damischer Depp! Jetzt hast du das Debakel!" Die Selbstvorwürfe kreisen in Endlosschleife durch den Hinterkopf. Seit zwei Stunden liege ich wieder wach, wie jede Nacht, und kann die Vorwurfstiraden nicht stoppen, den lautstark schnarchenden Zimmernachbarn nicht abdrehen, die Schmerzen im kaputten Bein nicht beeinflussen und das unangenehme Druckgefühl im Rücken wegen der permanenten Rückenlage nicht mindern. Wenn mir etwas runterfällt, liegt es am Boden und ich komm nicht mehr dran. Ich kann mich kaum bewegen, darf und kann noch nicht aufstehen. Ich fühl mich erbärmlich. Diese totale Hilflosigkeit muss man erstmal verkraften. - Mach kein Theater, sag ich mir. Ich muss an meine Mutter denken, die mit meiner Geburt an Multipler Sklerose erkrankte und viele, viele Jahre lang wegen der fortschreitenden Lähmung ans Bett gefesselt war. Armes Mütterlein. Wie tapfer sie das ertragen hat. - Nimm dir ein Beispiel an ihr und hör auf, selbstmitleidig rumzujammern.

Am Samstag wurde ich gegen 14 Uhr in die Unfallchirurgie eingeliefert und sollte um 17 Uhr operiert werden. Es wurde dann deutlich nach 22 Uhr. Als ich - von der Narkose noch benebelt - gegen Mitternacht von einem Pfleger zurück auf Station gefahren werde, höre ich ihn freundlich aufmunternd sagen: „Alles gut gelaufen, jo, basstscho", was leider voreilig war, wie sich am nächsten Morgen herausstellt. Was ich bei der Visite verstehe, ist, dass eine der vier Knochenschrauben, die in meiner gebrochenen Hüfte verankert wurden, um wieder zusammenzufügen, was zusammengehört, offenbar zu lang ist und sozusagen auf der anderen Seite ein wenig herausragt. Also muss ich nochmals in Vollnarkose unters Messer, um diese vorwitzige Knochenschraube durch eine kürzere auszutauschen.

„Jo, des kann scho ma bassiern, da steckt mer net drin. Aber jetzt hams dös überstanden, un jo, dös basstscho". Der Pfleger, der mich samt Bett wieder zurück ins Zimmer fährt, gehört zu der freundlichen und redefreudigen Sorte. Es gibt da auch andere, „stumme Diener" sozusagen, auch leicht genervte Grantler und vor allem gibt's den Toni, den Spitzen-Entertainer unter den Pflegern. Die Krankenschwestern, von denen es offenbar wegen des Schichtbetriebes sehr viele gibt, sind allesamt, fast ohne Ausnahme, ausgesprochen freundlich, geduldig und zuvorkommend.

Mein Zimmernachbar, ein älterer Herr, ist wahrlich kein pflegeleichter Patient. Er hält die Schwestern und Pfleger ständig auf Trab. Zuhause, wo er alleine lebt, war er innerhalb von zwei Tagen gleich dreimal hintereinander gestürzt und wurde in die Unfallchirurgie zur Beobachtung und Untersuchung eingeliefert. Erkennbare Knochenbrüche oder sonstige schwere Verletzungen wurden nicht festgestellt. Aber er hat Prellungen und Blutergüsse davongetragen und leidet unter starken Schmerzen - und: unter den „Eiszapfen", wie er seine Füße nennt.

Auch mich, seinen Zimmernachbarn lässt er an seiner misslichen Situation teilhaben. Nachts um vier schaltet er, hoffentlich ungewollt, das brüllend laute Radio ein und findet den Ausschaltknopf nicht. Erst die herbeieilende Nachtschwester beendet die Horrorlautstärke. Im Radio gab man Gloria Gaynors Hit „I Will Survive". Danke.

Der alte Herr verfügt über ein erstaunlich vielfältiges und abwechslungsreiches Geräusche-Repertoire, tagsüber wie nachts. Bei jedem Ausatmen stöhnt er tief mit einem rasselnden Unterton, was mal klingt wie das gequälte Brummen eines waidwunden Bären, mal wie ein fisteltönendes Jammern. Immer wieder hört man von ihm brabbelndes Vor-sich-hin-Gejammere: „Ohwehohwehohweh" in ständiger Wiederholung, doch immer wieder mal unterbrochen von einem lautstarken, energischen Ausruf: „So ein Scheißdreck!", wonach wieder die Jammerarie folgt. Mit den Schwestern redet er einerseits in relativ normalem Tonfall, wechselt aber in ein erbarmungswürdiges Bittstellergeheule, wenn er etwas braucht: ein neues Kissen, nein, ein anderes Kissen, nein, ein spezielles Kissen; eine Kanne mit heißem Wasser, nein, nicht dieses lauwarme Wasser; Abhilfe gegen die „Eiszapfen" an seinen Füßen und immer wieder Schmerztabletten und nochmals Schmerztabletten. Ruft jemand aus der Verwandtschaft an, fällt er sofort in einen winselnden Klagegesang, als würde sein Ende unmittelbar bevorstehen. Ist das Telefonat beendet, schaltet er sofort wieder in seine Jammerarie um: „Ohwehohwehohweh". 

Auftritt Toni.

Der Tagespfleger Toni, der leider nur selten in unserem Zimmer auftaucht, ist ein skurriler Typ. Auf das nicht endenwollende „Ohwehohweh" des alten Herrn reagiert er mit aufmunternder Stimme: „Jojo, jammern's nur weiter, dös hülft." Als der alte Herr weiter jammernd mit gebrochener Stimme antwortet: „mit mir wird's nimmer besser", antwortet der Toni: „wissen's wos, sie müssen das anders sehen, positiver. Schlimmer geht's immer". Und damit enteilt der Toni mit breitem Grinsen und seinem typischen scharwenzelnden Watschel-Gang. Später kommt der Toni zu mir: „Do get's a Schmerztabletten und a Magenschontabletten, bittaschön." Als ich dankend entgegne, dass ich keine Schmerztabletten mehr brauche und dass deshalb auch auf die Magenschutztablette verzichtet werden kann, schaut der Toni mich mit großen Augen an, verzieht das Gesicht und sagt: „soso". Er blickt dabei auf mein Namensschild auf der Bettumrandung, holt tief Atem, setzt ein Pokerface auf und fährt fort: „Sie sind also ein Rebell." Atempause. „Ein schöner Name wäre auch „Held" für Sie gewesen," schiebt er verschmitzt hinterher. Dann kippt seine Stimme ins höchste Fistelstimmen-Register, und er redet in schnellem Wortschwall und in eigenartigem Singsang auf mich ein. Nur, in welcher Sprache? Ich sage: „Entschuldigung, ich nix verstehen". Worauf er sich wie ein Oberlehrer in Positur vor mir aufbaut und in halbwegs klarem Deutsch die folgenden Worte spricht: „Wir dürfen scho erwarten, dass unsere deutschen Skiunfallpatienten sich mit unserem schönen Vorarlberger Dialekt vertraut machen. Sonst kann ich ja hier nicht arbeiten." Breit grinsend, vor sich hinkichernd und leicht mit den Armen rudernd (an Frau Merkel erinnernd) schwebt der Toni von dannen. Was für ein Auftritt. In Gedanken spende ich tosenden Applaus.

Am Toni ist wahrlich ein Entertainer verloren gegangen. Wenn er Dienst hat, wird draußen auf dem Flur immer irgendwo gelacht. Leider kriegt man im Zimmer nicht mit, welche Späße der Toni da draußen treibt. Der Toni ist etwas untersetzt, schiebt ein gemütliches Bäuchlein vor sich her, trägt Totalglatze und pflegt eine eigenwillige Gangart: nicht nur aufrecht, sondern sogar leicht nach hinten geneigt und mit den Armen watschelnd. Wenn er den Raum verlässt, dreht er - ohne den Oberkörper oder die Schultern mitzubewegen - seinen Kopf erstaunlich weit zurück in Richtung seiner Patienten und grient dabei mit weit geöffnetem Mund. Ein starker Typ. Ein Original.

„Warum musste das sein? Jetzt hast du den Schlamassel, du Vollidiot". Die Endlosplatte der Selbstvorwürfe nudelt wieder in Dauerrotation, und ich liege mal wieder mitten in der Nacht wach, auch wegen der unangenehmen, ewigen Rückenlage und, weil mein Zimmernachbar nur bei voller Beleuchtung schlafen kann. „Wie konntest du diese Eisplatte nur übersehn, du blindes Huhn? Und warum muss ein fast 72-jähriger überhaupt noch steile Sulzschnee-Hänge runtergurken?" - „Weil so'n bißchen Nervenkitzel Freude macht, du Spaßbremse!" In meinem Hinterkopf rasseln die widerstrebenden inneren Stimmen aneinander. Natürlich behält die Vorwurfsstimme die Oberhand. „Warum konntest du deinen letzten Urlaubstag nicht locker ausklingen lassen, mit ein paar Kilometern Langlauf im schönen Tal, wie geplant, und mit dem Museums-Besuch, den du deiner Liebsten fest versprochen hattest? Warum  musstest du unbedingt noch mal alpin fahren und ausgerechnet diesen problematischen, sausteilen Sulzhang runterrauschen, du Volldepp?" - „Erstens, weil es nicht anders ging. Bei der Talabfahrt gibt's halt keine Ausweichpiste. Da muss man durch. Und zweitens, weil ich's kann!" - „Haha, der Herr Großkotz liegt in der Unfallchirurgie mit kaputtem Bein und behauptet, er könne diesen Hang bewältigen. Sehr witzig. Und sehr unrealistisch!" - „Die Tage zuvor bin ich den Hang ohne Probleme runtergekommen." - „Dass ich nicht lache! Gleich am ersten Tag bist du bei ähnlich ausgefahrener Sulzpiste wie ein Anfänger da runtergeeiert. Das hätte dir eine Warnung sein müssen, du Superdepp. Jetzt hast du dir wegen eines dämlichen Sturzes die nächsten Monate komplett kaputtgemacht, mit allen Konsequenzen. Du bist doch total bescheuert!" Die gnadenlose Vorwurfsstimme ist nicht zu bremsen. Aber es stimmt ja auch: dieser eine kurze Moment, dieser eine Fahrfehler auf der Eisplatte, der zum einzigen Sturz im ganzen Urlaub führte, wird mein nahes und mittelfristiges Leben auf den Kopf stellen und mich in jeder Weise massiv behindern.

Ich liege auch die ganze Zeit wach, weil mein neuer Zimmernachbar zwar alles andere als ein Jammerlappen wie sein Vorgänger ist, aber auch er entpuppt sich als  variantenreicher Geräuscheproduzent. Staunend liege ich so für mich hin und werde nicht so ganz freiwillig gewahr, welche Modulationen ein geübter Schnarcher so drauf hat.

Hier in der Unfall-Chirurgie liegt er, ein massiges Schwergewicht von 130 kg, weil er zuhause auf der „Stiege" ausrutschte und die letzten Stufen auf dem Gesäß hinunterpolterte: ratatatata. Nein, ist nicht witzig, ist schmerzhaft und hatte Folgen. Pro Stufe ein Bruch, verteilt auf beide Beine: Schienbein, Wadenbein, Sprunggelenk und Mittelfuß. Er hat nichts ausgelassen. Jetzt in der Nacht stöhnt der Mann, wenn er nicht gerade schnarcht. Und hochgradig erstaunlich, wie es sich anhört, wenn eine menschliche Masse von 130 kg Lebendgewicht versucht, sich in einem schmalen Krankenbett von der linken auf die rechte Seite zu wälzen. Ich beneide ihn jedenfalls um die, wenn auch schwer erkämpfte Seitenlage. Denn ich kann und darf nur Rückenlage und sonst nichts. Was auf Dauer einer Folter gleicht. Langsam kenne ich jeden einzelnen Druckpunkt an meinem Rücken und Hintern persönlich mit Namen.

Wenn der Mann lautstark krachend hustet, immer im Rhythmus „äch/ächhaa", dann denkt man unwillkürlich, so ähnlich müssen sich in grauer Vorzeit die Senner über einsame Alpentäler hinweg verständigt haben. Wenn er pupst, was er häufig tun muss, weil er das Bett noch nicht verlassen darf, dann klingt das wahlweise nach Vorderlader-Schrotflinte, Kanonenabschuss oder Donnergrollen eines Kunstfurzers. Wirklich beeindruckend. Applaus scheint mir dann doch nicht angemessen. Ich will den Mann ja auch nicht wecken. Es reicht doch, wenn ich wach liege.

Nach den verschiedenen Salven unterschiedlichen Kalibers kann der Raum schon mal nach Raubtierkäfig müffeln. Die Nachtschwester kommt herein und sagt ob der dicken Luft: „oh", und schaut als erstes auf ihre elektronische Anzeigetafel neben der Tür, ob eventuell ein Leck in irgendeiner der vielen Zuleitungen verantwortlich sein könnte, was nicht der Fall ist, weshalb sie sofort das Fenster aufreißt. Vielleicht drohte ja Erstickungsgefahr, man weiß ja nie ... Die frische Kühle des Vorarlberges erfüllt sofort wunderbar erquickend den Raum.

Der erste Satz, den mein neuer Zimmernachbar - gerade angekommen - übrigens sprach, lautete: „Hat's hier ein WLAN?" Nein, hat's hier nicht. Kein Problem für den Geschäftsmann Leopold, wie er sich sogleich vorstellte; eine Stunde später hatte er sich aus seinem Büro eine WLAN-Box vorbeibringen lassen. Leopold stellt sich als patenter, freundlicher Zeitgenosse heraus, der gerne erzählt und über Gott und die Welt plaudert - besonders gern auch über sein Elektroauto mit 400 Kilometer Reichweite. Damit ist er hier im ländlichen Raum des Bregenzer Waldes ein Pionier. Seine stehende Redewendung lautet: „basstscho". Ob eine Schwester fragt, ob das Frühstück abgeräumt werden kann, ob ein Pfleger, Hilfe anbietet, den Fernseher für ihn zu justieren, ob der Herr Oberarzt bei der Visite nach dem werten Befinden sich erkundigt, immer kommt die Antwort: „jo, basstscho!" Auf den Physiotherapeuten des Hauses ist er allerdings überhaupt nicht gut zu sprechen. Der forderte ihn kurz nach der Operation auf, die Beine zügig zu belasten, was er auch tat. Ergebnis: jetzt hat er auch noch einen Gips. Der Herr Physiotherapeut habe wohl übersehen (was man wirklich nicht übersehen kann), dass der Patient kein Normalgewicht aufweise, sondern die frisch operierten Haxen mit stolzen 130 kg belaste. „Is der total deppert?" Nein, in diesem Fall basst's net.

Am Vorabend meiner Entlassung nach einwöchigem Aufenthalt erhalte ich vom Physiotherapeuten ein „Händ-aut", das mir schon für Tag 3 versprochen worden war. Egal. Zu dem Papier, das Verhaltensregeln für den Umgang mit dem kaputten Bein formuliert, gehört auch der Ausdruck eines Röntgenbildes der medialen Fraktur meines kaputten Oberschenkelhalskopfes. Bestens erkennbar sind die vier Knochenschrauben, die den gebrochenen Schenkelhals nun fixieren sollen. Und ich erkenne an der Schraubenform das Knochenschraubengewinde HB 7,3 nach DIN 58810. Mein Gott, denke ich, jetzt stecken da Schrauben in meiner Hüfte, an deren Entwicklung ich vor langer Zeit selbst beteiligt war. Denn kaum zu glauben: vor ca. 30 Jahren hat meine, vom Vater ererbte Gewindewerkzeugfabrik Johann Rebell erste Prototypen dieser Knochenschrauben geschliffen - damals noch aus hochlegiertem Chromnickelstahl (V4A) gefertigt. „Heute sind diese Schrauben aus Titan", sagt der Herr Physiotherapeut. Ich weiß es in diesem Fall wirklich besser. Reintitan wäre viel zu weich. Die Knochenschrauben werden heute aus hochfester Titanlegierung TiAl6V4 gefertigt. Aber ich halte natürlich meine Klappe und denke mir: basstscho!.

Tags drauf, kurz vor meiner Entlassung, kommt nochmals der Toni angerauscht. „Alles Gute", wünscht er mir und fügt grinsend hinzu. „Und dass ich Sie hier so schnell nicht wiedersehe!" Vor sich hinkichernd enteilt er, natürlich nicht, ohne sich nochmals nach mir umzudrehen, breit grinsend und heftig mit dem Kopf nickend.

Der Toni hatte seinen Anteil daran, dass die Woche im Krankenhaus einigermaßen erträglich war - aber vor allem natürlich der wunderbare Zuspruch durch Mails, die tröstende Aufmunterung durch Anrufe, die psychologisch so wichtige tägliche Unterstützung aus der fernen Heimat: von meiner Liebsten, meinen lieben Anverwandten und den engen Freunden. Ihr habt mir wirklich sehr geholfen und tut es noch immer. Ich danke Euch von Herzen. Volker.

mehr dazu, Fotos, Video, siehe: https://radio-rebell.de/schlimmer-gehts-immer-oder-basstscho/

 

Jazz-Chor SOUNDSATION aus Neu-Isenburg | Konzert am 04.11.2017, Marktplatzkirche, Neu Isenburg

Lobpreisung: es war ein großartiges Chor-Konzert gestern Abend in der Marktplatzkirche in Neu-Isenburg. Die Performance des Jazz-Chores SOUNDSATION konnte in jeder Weise überzeugen: - die Qualität der Stimmführung und Intonation, - die Feinabstimmung zwischen den einzelnen Chor-Teilen, - die ausdrucksstarke und absolut stimmige Umsetzung selbst der komplexesten Arrangementparts, - die ausgezeichneten Soloparts der immer wieder hervortretenden „Vorsänger", die gleichermaßen homogen ins Gesamtgefüge eingebettet waren, - das Rhythmusgefühl des Chors als Einheit, das auch in Nuancen noch Groove und Swing hörbar machte - vor allem Dank der menschlichen, „mit dem Munde gemalten" Beatbox, die nicht nur eine klangliche Bereicherung war, sondern vor allem dem gesamten rhythmischen Klangkörper Solidität und Lebendigkeit verlieh.

Man weiß gar nicht, welche der wunderbaren Arrangements man besonders lobend herausstellen soll. Vielleicht die wohltemperierte Stimmung des Lennon/McCartney-Songs „A Day In The Life", die intensiven, hoch emotionalen Klangfärbungen im Peter Gabriel-Song „Don't Give Up", die „Polytonalität" (Matthias Becker) der wundersam reibungsvollen Intervalle im diffizilen Stück „Iridis" des renommierten Komponisten und Chorarrangeurs Erik Bosio, oder das feurige Arrangement des Seal-Hits „Kiss From A Rose", für das der Chorleiter Dr. Matthias Becker verantwortlich zeichnet.

Unbedingt zu erwähnen ist auch das überragend gesungene, traditionelle nordirische Chorstück „Dobbins Flowery Vail", das, wie Chorleiter Matthias Becker (der auch als Co-Arrangeur zur besonderen Wirkung des Stückes beitrug) in seiner Anmoderation anmerkte, alle Gefühle und atmosphärischen Stimmungen von der grandiosen irischen Landschaft bis zur Melancholie des irischen Nebels und Regens auszudrücken vermochte.

Gegen Ende des über zweistündigen Konzertes schien die Konzentration bei manchen Akteuren verständlicherweise ein klein wenig nachzulassen, was speziell beim Duke Ellington-Klassiker „It Don't Mean A Thing If It Ain't Got That Swing" mal kurzzeitig den Swing etwas ins Schwimmen brachte. Aber das sind nur Petitessen und absolut vernachlässigbare Randbemerkungen.

Denn der Abend war insgesamt ein Fest für jeden Musikliebhaber. Und jeder, der Chormusik liebt, konnte diese zweieinhalb Stunden einfach nicht besser verbringen, als gebannt und begeistert lauschend das famose Chorkonzert von SOUNDSATION zu genießen. Noch Stunden später schwirrten die Stimmen und Sounds des Chors dem beteiligten Zuhörer durch den Hinterkopf. (Volker Rebell)

 

Er hasst den deprimierenden Montag. Und auch die nächsten Tage können ihm gestohlen bleiben - nur Arbeit und Stress. Doch am Freitag gibt's Kohle und am Samstag wird einer drauf gemacht. Deshalb hat er am Sonntag einen Kater, aber das war's ihm wert. Denn am Montag beginnt der Schlamassel von vorn. Das sang der Pop-Spötter Randy Newman vor 10 Jahren als wär's ein Stück von ihm und/oder als wär's die Moritat eines Bauarbeiters von heute. Tatsächlich war der Song „Blue Monday" damals schon 50 Jahre alt und ging in die Pop-Geschichte als ein Top Five-Hit von Fats Domino ein. Lange vor Elvis und Bill Haley hatte der übergewichtige Boogie-Pianist und Sänger Antoine Domino, genannt Fats aus New Orleans den rollenden Rhythm'n' Blues entwickelt, die letzte Stufe vor dem Beginn des Rock'n'Roll-Zeitalters.

2007 erschien zu Ehren des Boogie'n'Rock-Pioniers Fats Domino, der am Dienstag (24.10.2017) im Alter von 89 Jahren in seiner geliebten Heimatstadt New Orleans starb, eine Sammlung mit 30 seiner großen Songklassiker in der Neufassung von Stars und Superstars -  darunter Sir Elton John mit „Blueberry Hill" von 1956 und Sir Paul McCartney mit „I Want To Walk You Home" (1959), wobei er auch die Originalzeile singt „I Want To Hold Your Hand", was einem doch irgendwie bekannt vorkommt. (Paul McCartneys Beatles-Single  „Lady Madonna" von 1968 war übrigens eine Hommage an Fats Domino).

John Lennon kräht gekonnt „Ain't That A Shame". Und das ist auch die einzige historische Aufnahme (aus Lennon's Album „Rock'n'Roll") auf diesem Tribute-Doppelalbum. Alle anderen Neu-Interpretationen wurden eigens für das Album „Going Home - A Tribute To Fats Domino" neu eingespielt. Taj Mahal & The New Orleans Social Club ließen „Hello Josephine" Jahrzehnte jünger klingen. Joss Stone mit Buddy Guy und Band, oder Lenny Kravitz mit Maceo Parker und Band befeuerten die fünf Jahrzehnte alten Songklassiker mit moderner Soul-, Funk- und Blues-Energie. Und was Led Zep's Robert Plant und The Band's Robbie Robertson aus weniger bekannten Fats Domino-Songs herauskitzelten und zeitgemäß in Szene setzten, ist einfach umwerfend. Auch andere Größen wie Neil Young, Tom Petty, B.B. King, Norah Jones und Herbie Hancock trugen zur besonderen Qualität des Tribute-Samplers bei. Und Los Lobos ließen den Boogie-Song „The Fat Man" von 1949, mit dem die Karriere von Fats begann, so munter losrocken als sei's ein aktueller Titel einer jungen Indie-Rockband. Mit Sicherheit wird dieses großartige Allstar-Tribute-Album, an dem auch Dr. John, Willie Nelson, Ben Harper, Art Neville, Bonnie Raitt, Lucinda Williams, Bruce Hornsby u.a. beteiligt waren, nun zu Ehren des verstorbenen, stilprägenden Boogie'n'Rock-Pianisten wiederveröffentlicht werden

Im August 2005 wäre Fats Domino während der verheerenden Hurricane-Katastrophe in New Orleans fast ums Leben gekommen. Sein Haus wurde völlig zerstört. Die Erlöse aus dem Album-Verkauf kamen dem Wiederaufbau eines Gemeindezentrums im noch immer nicht völlig sanierten Bezirk „Lower 9th Ward" von New Orleans zugute, in dem Fats Domino zeitlebens zuhause war.

Auch wenn nach Chuck Berry nun auch Fats Domino die Bühne endgültig verlassen hat, der Rock'n'Roll wird nie aussterben.

 

Das werde ich nie vergessen. Am Mittwoch, dem 17. August 1977, war ich um die Mittagszeit mit dem Auto nach Hause unterwegs und hatte gerade in den hr-Nachrichten gehört, dass Elvis tags zuvor gestorben sei. Mit 42 Jahren an Herzversagen. Das kam mir völlig unwirklich vor. Ein Flugzeugabsturz oder schwerer Autounfall schien mir erklärlich, aber Herzversagen bei einem 42-jährigen Topstar, der doch medizinisch optimal betreut sein dürfte? Vielleicht waren Drogen im Spiel, dachte ich, eine Überdosis an Kokain oder Medikamenten? Wie dem auch sei: Der King war schrecklicherweise tot. Und die Leichenfledderer der Unterhaltungsindustrie würden sich an seinem Nachlass zu bereichern wissen - pietätvoll, versteht sich.

Ich war ganz in Gedanken versunken, als ich mich dem Frankfurter Miquelknoten näherte und mich jählings aus meinem „In Memoriam Elvis"-Film gerissen sah, der sich vor meinem geistigen Auge abgespult hatte. Ich sah mich plötzlich erneut in einer völlig unwirklichen Szene, so als hätte ich mich in einen Action-Krimi verirrt, aber einen der billigen Sorte. Jedenfalls wurde ich kurz nach der Meldung von Elvis' Tod gleich nochmals geschockt. Ich kam in eine Straßensperre.

Bewaffnete Uniformierte mit Maschinenpistolen im Anschlag bedeuteten mir an die Seite zu fahren und anzuhalten. Ich wurde begrüßt mit den Worten: „Polizeikontrolle, Zündung ausschalten, Wagenpapiere, Führerschein und Kraftfahrzeugschein." Der Uniformierte mit dem rüden Kasernenhoftonfall streckte fordernd die Hand aus. In der gleichen Manier folgte die bellende Aufforderung: „Personalausweis"! Ich hatte aber nur eine schlechte Ausweis-Kopie dabei. Da wurde ich barsch angeschnauzt: „Aussteigen. Kofferraum öffnen!" Ich stieg aus, musste mich breitbeinig, mit dem Rücken zu dem Polizisten an mein Auto lehnen und wurde von oben bis unten abgeklopft. Zwei Beamte inspizierten den Kofferraum und das Wageninnere und schienen enttäuscht. Es waren natürlich bei mir keine Waffen zu finden. Oder wonach wurde da überhaupt gesucht? Danach fragte ich, und auch, warum ausgerechnet mein Auto durchsucht wird, während andere Autofahrer nach der Führerscheinkontrolle sofort weiterfahren konnten. Die Antwort kam wieder im Feldwebeltonfall: „Ist rein routinemäßig!" Damit erhielt ich meine Papiere wieder, und mit Handzeichen und entsprechender Bewegung der Maschinenpistole wurde mir bedeutet, weiterzufahren.

Es waren schlimme Zeiten damals im Deutschen Herbst. Da brauchte man nur lange Haare haben und Rebell heißen, um als potentieller Terrorist verdächtigt zu werden.

Leonard Cohen - zum Tod des großen Songpoeten, singenden Romanciers und dunklen Romantikers

„Ich bin bereit, Herr". „Jeder hat seine Geschichte. Und sie ändert sich jeden Tag. Wie die Furchen in unserem Gesicht." Diese Zitate stammen natürlich von ihm, dem Großmeister der kultivierten Melancholie, dem Kultdichter und Vorsänger einer nicht hoffnungslosen Tristesse. Seine persönliche Geschichte als Literat und Songschreiber ist beeindruckend und von etlichen Veränderungen gezeichnet. Und die Furchen in seinem Gesicht erzählen von seiner langen bewegten Biographie. Am 10. November ist Leonard Cohen im Alter von 82 Jahren gestorben. Nur wenige Wochen zuvor erschien sein letztes Album, sein musikalisches Testament: „You Want It Darker".   Im Song „Almost Like The Blues" aus seinem Album „Popular Problems" von 2014 sang er mit Grabesstimme von Tod und Verderben, Krieg und Verzweiflung. Doch in den Schlusszeilen wendet sich der Blick von den Dramen und Katastrophen zu einer ambivalenten, aber dennoch hoffnungsvollen Perspektive: er erhielt die Einladung zu einem tieferen Wissen, „das ein Sünder nicht zurückweisen kann. Es ist fast wie eine Erlösung, es ist beinahe wie der Blues." Sein letztes Album zeichnet - dem Titel entsprechend - noch dunklere Bilder, während die Musik in eher melancholischen als düsteren Klangfarben schwelgt.

Mitte der 1950er Jahre erschienen seine ersten Gedichte. Bald folgten Prosatexte und Romane und die Erkenntnis, dass er von seiner Schriftstellerei nicht leben konnte. Also begann der musikalisch unerfahrene Autor Lieder zu schreiben und selbst zu singen. Im Dezember 1967 wurde sein Debüt-Album „The Songs of Leonard Cohen" veröffentlicht. Es gilt als Meilenstein der Popmusik. Damals stellte man ihn sofort auf eine Stufe mit Bob Dylan. Cohens Lieder waren mit ihrer poetischen Kraft, der bewusst gewählten musikalischen Monotonie und dem zurückhaltenden Sprechgesang eine Novität in der Popszene jener Tage. Beeinflusst von Blues, Folk und Country stand die schlicht gehaltene Musik ganz im Dienst der stimmungsvollen Ausdeutungen der Metaphern des Textes. Auf zehn weiteren Alben pflegte er seine unverwechselbare lyrische Eindringlichkeit und eine melancholisch gefärbte, vielschichtige Eintönigkeit. 1994 entsagte er dem Popbusiness, tat kund, keine Songs mehr schreiben zu wollen und zog sich in ein Zen-Kloster zurück. Nach mehrjährigem asketischem Leben als Mönch, begann er wieder Lyrik für neue Lieder zu schreiben. Die Gefühle von Schwermut und innerer Beklemmung, die ihn fast sein ganzes Pop-Leben lang begleitet hatten, waren durch die Meditationen im buddhistischen Kloster einer inneren Ruhe gewichen. Aus den Tiefen dieses inneren Friedens entstanden „Ten New Songs", die nach fast 10-jähriger Plattenpause 2001 erschienen. 2004 folgte das Album „Dear Heather" und im Jahr danach der Dokumentarfilm und das Soundtrack-Album „Leonard Cohen - I'm Your Man". 2008 wurde er in die <Rock and Roll Hall of Fame> aufgenommen und ging in den Folgejahren auf erfolgreiche Welttourneen - was ihn wieder finanziell sanierte, nachdem seine Ex-Managerin ihn zuvor um sein Vermögen gebracht hatte. Im Januar 2012 erschien sein 12. Studioalbum „Old Ideas", das überwiegend positive Kritiken erhielt und Top-Five-Platzierungen in USA, England, Deutschland und anderen Ländern erreichte. Auch das Folgealbum „Popular Problems" knüpfte nahtlos an diese Erfolge an. Und man braucht kein Prophet zu sein, um seinem letzten Album „You Want It Darker", das am 21. Oktober 2016 erschien, eine noch größere Beachtung und Anerkennung vorauszusagen.

Mit zunehmendem Alter hatten sich Leonard Cohens beschränkte gesangstechnische Möglichkeiten zwar nicht erweitert, doch seine brüchig klingende, mehr sprechende als singende Stimme lebte nach wie vor, auch noch bei den Aufnahmen zu seinem letzten Album - und vielleicht sogar noch stärker - von jener ungemein intensiven, melancholisch-romantischen Ausstrahlung, die vor allem seine weiblichen Zuhörer schon immer in ihren Bann zog. Jetzt ist diese seelentiefe, oft als fast magisch empfundene Stimme verstummt.

Appendix - zu einzelnen Songs und Alben

Seine persönliche Geschichte als Literat und Songschreiber ist beeindruckend und von etlichen Veränderungen gezeichnet. 14 Studioalben hat er veröffentlicht. Außerdem liegen 6 Live-Alben von ihm vor und ebenso viele Kompilationen. (Es werden mit Sicherheit weitere folgen.) Das sind nicht gerade viele Veröffentlichungen für einen Künstler, dessen Karriere als Sänger 1967 begann. Doch einerseits braucht er lange für seine Texte und Lieder, andererseits hält er nichts von den Verwertungsgesetzmäßigkeiten und der Musikindustrie und bewahrte sich eine Menge an Skepsis und Distanz zu „Babylon", wie er die Konsumwelt mit ihren Leistungszwängen nennt. 1994 hatte er sich aus dem Business in ein buddhistisches Zen-Kloster zurückgezogen und reflektierte nach seinem mehrjährigen Leben als Mönch im Song „By The Rivers Dark", warum er das Leben in der Konsumwelt hatte aufgeben müssen. Im Text heißt es: „Ich wanderte entlang den dunklen Flüssen. Ich lebte mein Leben in Babylon. Und ich vergaß mein heiliges Lied. Und ich hatte keine Kraft in Babylon, an den dunklen Flüssen, wo ich nicht sehen konnte, wer auf mich wartete und wer mich jagte."

Sein erster Auftritt als Sänger fand vor 49 Jahren statt. Am 30. April 1967 stand er bei einem Benefizkonzert in der New Yorker Townhall erstmals auf der Bühne, damals präsentiert von Judy Collins, die schon in ihrem Album „In My Life" von 1966 zwei Cohen-Songs interpretiert hatte. Nun stand er selbst vor dem Publikum eines Konzertes gegen den Vietnamkrieg und sang unter anderem ein eher privates Trennungslied. Mit seiner damaligen Partnerin Marianne hatte er einige Zeit auf der griechischen Insel Hydra verbracht. Das Haus auf Hydra, das er sich schon 1960 mit einer kleinen Erbschaft damals hatte kaufen können, blieb übrigens zeitlebens in seinem Besitz. Das Trennungslied „So long Marianne" ist einer der schönsten Abschiedsbriefe in Liedform, die je geschrieben wurden. Zitat: „Es gab kein bitteres und erbittertes Streiten. Ihre Zeit war einfach vorbei. Die beiden hatten sich auseinander gelebt", schrieb der Cohen-Biograf Anthony Reynolds über den Song „So Long Marianne" aus Cohens Debütalbum. „Komm hierher ans Fenster, mein Liebling. Ich werde versuchen, dir aus der Hand zu lesen. Ich dachte immer, ich wäre eine art Zigeunerjunge, bevor ich zuließ, dass du mich mit nach Hause nimmst. Du weißt, wie sehr ich es liebe, mit dir zu leben. Aber du lässt mich so vieles vergessen. Ich vergesse, für die Engel zu beten. Und dann vergessen die Engel, für uns zu beten. Wir trafen uns, als wir noch fast jung waren dort im Herzen des grünen Fliederparks. Du hieltest dich fest an mir wie an einem Kruzifix als wir auf Knien durch die Dunkelheit gingen. Alle deine Briefe sagen, dass du jetzt bei mir bist, doch warum fühle ich mich dann einsam? Ich stehe auf einer Klippe und dein feines Spinnennetz kettet meinen Fuß an einen Stein. Bis bald Marianne, es wird Zeit, dass wir anfangen zu lachen und zu weinen und wieder über alles zu lachen", so heißt es im Text des berühmten Cohen-Songs „So Long Marianne" aus seinem Debüt-Album „Songs Of Leonard Cohen", das schon Mitte 1967 erscheinen sollte, dann aber erst kurz vor Weihnachten 1967 in limitierter Auflage und schließlich im Februar 1968 offiziell veröffentlicht wurde. Damals war Cohen „der Kontrapunkt zum Freiheitsfuror junger Politaktivisten, zur Selbstberauschung der Blumenkinder. Bei Cohen, markante Gesichtszüge, dunkler Anzug, einem Typen wie einem Film Noir entsprungen, kam jede Hoffnung auf eine zumutbare Existenz an ihr Ende", schrieb der Kritiker Mark Obert.. Vor allem die Frauen flogen auf die romantische Ausstrahlung der geheimnisvollen Lieder des dunklen Song-Poeten, und dieses Interesse beruhte auf Gegenseitigkeit. Fünf der zehn Lieder seines Debütalbums handelten von Frauen. Auch auf seinem Folgealbum „Songs From A Room" von 1969 waren die Frauen sein Hauptthema neben dem Leben, der Sinnsuche, der Leidenschaft und dem eigenen Ich. „Wie ein Vogel auf dem Telefondraht, wie ein betrunkener Säufer in einem Mitternachts-Chor, habe ich versucht, auf meine Art frei zu sein. Wie ein Wurm am Angelhaken, wie ein Ritter aus einem alten Buch hob ich meine letzten Fetzen für dich auf. Wenn ich je unfreundlich war, dann hoff ich, dass du mir vergibst. Wenn ich jemals unehrlich war, du weißt, ich war es nie zu dir."

Das ist ein Song sowohl für Frauen wie für die Männer. Wer fühlte sich nicht angesprochen von der Refrainzeile:„Ich habe versucht auf meine Art, frei zu sein" und vom wunderbaren Song insgesamt, „Bird On The Wire" aus Leonard Cohens zweitem Album "Songs From A Room", das im April 1969 veröffentlicht wurde und erneut das Publikum wie auch die Kritiker überzeugen konnte  „Bird On The Wire", der als ein Signatur-song von Leonard Cohen gilt, wurde später oft gecovert, unter anderem von Jennifer Warnes, Joe Cocker, Soul Asylum, Johnny Cash usw.. Auch das 1971 folgende Album „Songs Of Love And Hate", das dritte und letzte der so genannten „Songs-Trilogie" folgte der Grundstimmung der beiden Vorläuferalben mit seinen düsteren Visionen und bitteren Stimmungen. Doch auf zwei Songs des Albums erlebte man den notorischen Melancholiker geradezu aufgekratzt. Im Song „Diamonds In The Mine" schien er fast auszurasten, gröhlte wie ein Gassenjunge und ließ erkennen, dass auch in diesem vermuteten „Sensibling" ein Vulkan zu brodeln scheint. Zu einem angedeuteten Ska-Rhythmus singt und brüllt er Zeilen wie diese: „Die Frau in Blau will sich rächen. Der Mann in Weiß, das bist du, sagt, er habe keine Freunde. Der Fluss ist angeschwollen mit rostigen Dosen und die Bäume brennen in deinem gelobten Land. Und es sind keine Briefe im Briefkasten. Und es sind keine Trauben am Rebstock. Und es sind keine Pralinen mehr in der Schachtel. Und es sind keine Diamanten mehr in der Mine." Und Cohen war plötzlich, aber nur kurzzeitig kein wehmütig singender Troubadour mehr.

Fast schon wie durchgeknallt oder bekifft klingt Leonard Cohen im Song „Diamonds In The Mine" aus seinem dritten Album „Songs Of Love And Hate", das im März 1971 erschien und die Song-Trilogie beendete. In digitaler Überarbeitung und klanglicher Feinjustierung sind diese drei Alben im Jahre 2007 wiederveröffentlicht worden. In erneuerter digitaler Bearbeitung für den Download sind nicht nur diese, sondern alle 12 damaligen Cohen-Studioalben zu seinem 80. Geburtstag verfügbar geworden. Im Oktober 2006 Jahres kam ein Tribute-Album für und mit Leonard Cohen auf den Markt: das Soundtrack-Album „Leonard Cohen: Iam Your Man", die Musik zum gleichnamigen Dokumentarfilm der den Mitschnitt zweier Tribute-Konzerte aus Anlass des 70. Geburtstages von Leonard Cohen zeigt und etliche Interviews enthält, natürlich auch mit dem Meister selbst. Die Musik allerdings ist eine Art Independent Folk-Verbeugung vor Cohen. Das gesamte Umfeld der Wainwright-Familie ist beteiligt, also Martha und Rufus Wainwright sowie deren Mutter und Tante Kate and Anna McGarrigle, außerdem die Rufus-Freunde Teddy Thompson und Antony, außerdem, neben anderen, Nick Cave, Beth Orton und Jarvis Cocker. Nur beim Schlusstitel des Albums „Tower Of Song" ist auch Cohen selbst zu hören - im Duett mit Bono. „Tower Of Song" ist ein weiterer Signatur-Song von Leonard Cohen, dessen Botschaft man so verstehen könnte: Das Leben spiegelt sich nicht nur in Songs, es erhält auch sozusagen eine Art Wohnstatt im Turm eines Liedes. Hier wähnt sich der Songautor mal beschützt, mal eingeschlossen. Im Text von „Tower Of Song" heißt es: „Ich sagte zu Hank Williams, wie einsam kann man werden? Hank Williams hat noch nicht geantwortet. Aber ich höre ihn die ganze Nacht hindurch husten, hundert Stockwerke über mir im Turm eines Liedes. Ich sehe dich auf der anderen Seite stehen. Ich weiß nicht, wie der Fluss so breit werden konnte. Ich habe dich geliebt, einst vor langer Zeit. Und alle Brücken brennen, über die wir gegangen sind. Aber ich fühle mich so verbunden mit dem, was wir verloren haben, dass wir es nie mehr verlieren müssen. Nun sage ich dir Lebe Wohl. Ich weiß nicht, wann ich wiederkomme. Morgen verlegen sie uns in den Turm weiter unten. Aber du wirst von mir hören, lange nachdem ich fort bin. Ich werde dir süße Worte sagen, aus einem Fenster im Turm eines Liedes." Diese süßen Worte singt Cohen mit grabestiefer Stimme, so wie ein alter Blues-Sänger, dem die Stimme schon fast versagt, der aber alle Kraft nochmals mobilisiert, um ein letztes Mal von seiner großen Liebe zu singen.

Mit vorsichtigem Applaus, der sehr viel enthusiastischer hätte ausfallen können, endet die Liveaufnahme von „Tower Of Song" so heißt dieser berühmte Song von Leonard Cohen, der im Original aus dem Album „I'm Your Man" von 1988 stammt. Die Schlusszeilen lauten: „Ja, meine Freunde sind fort und mein Haar ist grau. Und ich sehne mich nach Liebe, doch ich komme nicht voran. Ich zahle nur meine Miete, jeden Tag im Turm eines Liedes." Dieser Live-Mitschnitt stammt wie gesagt aus dem Tribute- und Soundtrack-Album „Leonard Cohen I'm Your Man", was auch der Titel des Dokumentarfilms von 2006 ist. Der Film zeigt nicht nur Ausschnitte zweier Tribute-Konzerte, sondern widmet sich auch in biografischen Sequenzen dem Leben und Werk von Leonard Cohen. Wim Wenders soll den Film überschwänglich als einen der großartigsten Musikfilme aller Zeiten gelobt haben.

1987 war bereits ein Cohen-Tribute-Album mit dem Titel „Famous Blue Raincoat" von Jennifer Warnes veröffentlicht worden, gefolgt 1991 von der Tribute-Compilation „I'm Your Fan" - daran beteiligt waren die Pixies, Geoffrey Oryema (allerdings mit einer schrecklichen Version von „Suzanne"), außerdem R.E.M., Lloyd Cole, Nick Cave, John Cale und viele andere, die allesamt Songs von ihrem Vorbild coverten. Vier Jahre später erschien das dritte Tribute-Album unter dem Titel „Tower of Song", diesmal waren vertreten unter anderem: Billy Joel, Elton John, Sting, Bono, Martin Gore von Depeche Mode und andere.

Zum 80. Geburtstag von Leonard Cohen wurde ein deutschsprachiges Tribute-Album veröffentlicht mit dem Titel: „Poem - Leonard Cohen in deutscher Sprache", übersetzt von Mischa G. Schoeneberg, interpretiert von 17 deutschen Musikern, Sängerinnen und Bands unterschiedlichster Coleur, darunter Nina Hagen, Peter Maffay, Reinhard Mey, Max Prosa, Madsen, Anna Loos, Tim Bendzko, Manfred Maurenbrecher, Fehlfarben u.a. Die Qualität dieser deutschsprachigen Cohen-Interpretationen ist recht unterschiedlich ausgefallen.

Ob Leonard Cohen Grund hatte, sich für diese deutschsprachigen Coverversionen herzlich zu bedanken, wie es im Album-Booklet kolportiert wurde? Nun, er war ein höflicher Mensch und dürfte gegen die Tantiemen nichts einzuwenden gehabt haben. Geld hatte er Anfang und Mitte des letzten Jahrzehnts bitter nötig. Während er sich mit ZEN-Meditationen beschäftigt hatte, räumte seine damalige Managerin seine Konten ab und prellte ihn um Millionen. Das war der eigentliche Antrieb für sein Comeback, für neue Alben und große Tourneen. Doch Geldknappheit und dagegen mit Liedern und Auftritten anzugehen, das war nichts neues für ihn.

In der Schluss-Strophe seines Songs „Field Commander Cohen" von 1974 klingt ziemlich viel Selbstironie und Selbstreflexion an, wenn er im Dialog mit sich selbst singt: „Ich habe nie gefragt, aber ich hab gehört, du hast dein Heil in der Armut gesucht. Aber dann hab ich dein Gebet mitangehört, dass du nichts anderes sein willst als nur ein dankbarer, treuer, singender Frauenlieblingsmillionär, der Schutzpatron des Neides und Händler der Verzweiflung, arbeitend für den Yankee-Dollar." Um für seine Arbeit als Dichter Dollars zu bekommen, ging Leonard Cohen 1967 zum ersten Mal das Wagnis ein, seine Gedichte zu singen. Es ging ihm zunächst tatsächlich nur darum, sein kärgliches Einkommen als Schriftsteller aufzubessern. Später, als er längst der gefeierte Sängerpoet war, zog er sich immer wieder aus dem Popbusiness zurück, manchmal für etliche Jahre und zweimal gar mit der Ankündigung, es sei für immer. Doch jedes Mal kam er wieder zurück auf die „Boogie Street", wie er das Popbusiness nannte. Gefragt, warum er denn nun doch wieder eine Comeback-Platte veröffentlichte, antwortete er stets offenherzig, er habe für den Dollar zu arbeiten, er müsse schließlich sich selbst und seine beiden Kinder Adam und Lorca ernähren. Im einzigen Album, das von ihm in den 90er Jahren erschien, geißelte er die Abhängigkeit vom Goldenen Kalb, malte düstere Zukunftsbilder und sang zu einem fast beschwingten Arrangement irritierende Zeilen wie diese: „Gib mir die Berliner Mauer zurück, gib mir Stalin und den Heiligen Paulus, gib mir Christus oder gib mir Hiroshima. Zerstöre ein weiteres ungeborenes Leben, Kinder mögen wir sowieso nicht sonderlich. Ich hab die Zukunft gesehen, sie ist mörderisch." So heißt es im Titelstück seines Albums von 1992 „The Future", in dem er seine pessimistische Zukunftssicht fast apokalyptisch formuliert: „Die Dinge kommen ins Rutschen. Nichts wird mehr bleiben, woran du dich festhalten kannst. Der Sturmwind dieser Welt hat das Gleichgewicht der Seele zum Einsturz gebracht. Der Teufel lässt dich seine Peitsche spüren. Mach dich bereit für die Zukunft, sie ist mörderisch." - Denkt man an den aktuellen Horror des Terrors und der vielen Kriege, dann kann man diesen 24 Jahre alten Text „The Future" als eine Art von Menetekel und eingetretener Zukunftsvision ansehen.

Der große Publikumserfolg wollte sich lange Jahre nicht mehr so recht einstellen, doch eine treue Anhängerschar war dem „Lord Byron des Rock", wie die New York Times Leonard Cohen nannte, immer geblieben. Seit er 2008 wieder regelmäßig auf Welttournee ging, zeigte die Erfolgskurve wieder steil nach oben. Sein Album „Old Ideas" von 2012 erreichte weltweit, wie schon erwähnt, Spitzenpositionen in den Albumcharts. Und obwohl er als Dichter über weit mehr Ausdrucksmöglichkeiten verfügte denn als Musiker und Sänger, so wird er doch von einer großen Zahl von Musikern regelrecht verehrt. Dass er als Gitarrist eher bescheidene Fähigkeiten hatte, dass er als Komponist wie als Sänger nur über ein schmales Band von Techniken und Fertigkeiten verfügte, das spielt offenbar keine Rolle. Man verehrt ihn dennoch, vielleicht auch gerade wegen des reduzierten Formeninventars, das er verwendet. Und dass er auch als Komponist durchaus Qualitäten hat, beweist unter anderem das von ihm geschriebene Instrumentalstück „Tacoma Trailer".  Zu der tatsächlich beschränkten Anzahl unterschiedlicher Akkorde in seinen Songkompositionen, dazu sagte Cohen einmal selbst schmunzelnd: „Die Leute denken, ich würde nur 3 Akkorde beherrschen, in Wahrheit kenne ich fünf." Sein eintöniger Gesang, schrieb ein Kritiker, klinge nach einem alten Bluessänger, dem bereits die hohen Töne abhanden kamen. Doch er brauchte keine Drei-Oktavenstimme und keine ausgefeilte Phrasierungstechnik, sein Sprechgesang, mit tiefer und warmer Stimme vorgetragen, war intensiv genug. Er brauchte keine komplexen Kompositionen und ausgeklügelten Sounds und Arrangements, seine schlichten Akkordfolgen und Melodiebögen haben - gemeinsam mit seinem Gesang und mit der Aura seiner Lyrik  genug Ausstrahlung, um zu faszinieren. Die Anerkennung, die er gerade unter Kollegen genießt, ist groß.

Von den verschiedenen Tribute-Alben, in denen namhafte Kollegen dem Meister der subtilen Song-Dramaturgie ihre Referenz erwiesen, war bereits die Rede. Nick Cave outete sich als glühender Verehrer von Leonard Cohen, ebenso Michael Stipe von R.E.M.. Bono von U2 und Wolfgang Niedecken von BAP sprachen von ihm als Orientierungsgröße. Elton John bat ihn zum Duett, Peter Gabriel, Sting und Tori Amos interpretierten nicht nur Songs von ihm, sondern machten sie sich zu eigen. Die Bands „Sisters of Mercy" unnd „Midnight Choir" benannten sich nach einem Song, bzw. nach einer Textzeile von ihm und sogar Bob Dylan hatte Cohens Song "Halleluja" auf Tourneen oft im Repertoire. Auch Joe Cocker coverte verschiedene Leonard Cohen-Songs. Cocker's Interpretation des Leonard Cohen-Erfolgssongs „First We Take Manhattan", erschienen 1999, ist eine von inzwischen weit über 1000 Coverversionen, die es weltweit mittlerweile von Cohen-Songs gibt. Den Song „First We Take Manhattan" hörte man zum ersten Mal 1987 aus dem Munde von Jennifer Warnes. Sie, die ehemalige Tourneebegleiterin und Backgroundsängerin von Leonard Cohen, nutzte eine der vielen längeren Plattenpausen von Cohen, um ein Soloalbum unter dem Titel „Famous Blue Raincoat" zu veröffentlichen, das ausschließlich Coverversionen von Cohen-Songs enthielt, erstaunlich erfolgreich war und den fast vergessenen Songautor Cohen wieder ins Gespräch brachte. Der Text des Songs „First We Take Manhattan", den Leonard Cohen ein Jahr nach Jennifer Warnes auch selbst sang auf seinem Album „I'm Your Man" von 1988, dieser Songtext löste damals schon Irritationen aus - und dann im Jahre 2001, nach den Terroranschlägen auf New York erst recht. Im Text heißt es: „Sie haben mich zu 20 Jahren Langeweile verurteilt, dafür, dass ich das System von innen heraus verändern wollte. Ich komme jetzt, ich komme und lasse sie büßen. Zuerst erobern wir Manhattan, dann erobern wir Berlin. Ich werde geleitet durch ein himmlisches Signal. Ich werde geleitet durch dieses Muttermal auf meiner Haut. Ich werde geleitet durch die Schönheit unserer Waffen. Zuerst erobern wir Manhattan und dann Berlin." In einem späteren Interview räumte er ein, dass diese und andere Zeilen des Songs heute erschreckend wirkten, doch man dürfe sie nicht missinterpretieren. In ihrer Gänze könnten diese Zeilen dazu beitragen, sich eben nicht nur vor dem Terrorismus zu ängstigen, oder sich ihm gar zu beugen, sondern ihm mit Verstand zu begegnen. Das Album „Iam Your Man" wurde nicht nur wegen dieses Songs gefeiert, es erhielt mehrere Auszeichnungen und wurde gar als bestes Album des Jahres nominiert. Die musikalische Mixtur aus Discobässen, Jazzanklängen Mainstream-Pop war allerdings für die Folkrock-Fraktion unter den Cohen-Anhängern harte Kost bis mehr als gewöhnungsbedürftig.

Im Text eines weiteren typischen Cohen-Song - typisch in Text und Musik, es ist der Schluss-Song seines Albums „Ten New Songs"  von 2001 „The Land of Plenty" - da heißt es: „Ich weiß nicht, wer mich dazu bringt, meine Stimme zu erheben und zu sagen: im Land des Überflusses möge eines Tages die Wahrheit ans Licht kommen. Für die Entscheidung, die aus dem Innersten kommt und der wir nur gehorchen können, für das, was von unsrer Religion übrig ist, erhebe ich meine Stimme und bete: dass im Land des Überflusses eines Tages die Wahrheit ans Licht kommt." Das ist ein schönes Schlusswort für diesen Nachruf, für Leonard Cohens Lebenswerk und seinen „Tower of Song".

 

 

Der ewige Prinz am Hof der Black Music starb im Alter von 57 Jahren - am 21. April 2016

„What you putting in your nose? Is that where all your money goes?" Diese Kokain-Anspielung findet sich in seinem Song „Pop Life" aus dem großartigen Album „Around The World In A Day" von 1986. Und 1992 sang er: „My name is Prince and I am funky / When it come to funk I am a junky". Ob er nur vom Funk abhängig war, darüber wurde oft spekuliert. In seinen Songtexten gibt es etliche mehr oder minder verschlüsselte Hinweise auf Drogenkonsum. Sollte sein früher und überraschender Tod mit Drogenmissbrauch zusammenhängen? Kurz nach der Nachricht, man habe ihn am Donnerstag Morgen leblos in einem Aufzug seines Anwesens nahe Minneapolis aufgefunden, kursierte die Meldung, er sei wenige Tage zuvor wegen einer Überdosis im Krankenhaus von Moline (Illinois) behandelt worden.

Das Obduktionsergebnis bestätigte den Drogen-Verdacht allerdings nicht, auch Gewaltanwendung, oder Suizid wurde ausgeschlossen. Der zuständige Gerichtsmediziner teilte am 2. Juni 2016 über Twitter mit, Prince sei an einer „versehentlichen Überdosis des Schmerzmittels Fentanyl" gestorben. Sein Tod wurde in der Mitteilung als Unfall deklariert. „Das synthetische Opioid Fentanyl wird als Schmerzmittel benutzt und gilt als besonders riskant. Die Gefahr einer Überdosierung ist sehr groß", so hieß es in einer dpa-Meldung v. 02.06.2016. Prince soll zwar unter Schmerzen gelitten haben, die durch Hüft- und Knieprobleme verursacht wurden, dennoch bleibt die Frage, warum er bereits seit längerer Zeit zu einer besonders hohen Dosierung des Opioid-Schmerzmittels gegriffen hatte.

(„Opioide sind natürliche, aus dem Opium gewonnene oder (halb)synthetisch hergestellte Arzneimittel mit schmerzlindernden, dämpfenden, beruhigenden und psychotropen Eigenschaften. Opioide können als Rauschmittel missbraucht werden und zu einer Abhängigkeit und Sucht führen." - zitiert nach Pharma-Wiki)

Aus dem persönlichen Umfeld von Prince war ein bekannter Suchtspezialist aus Kalifornien am 20. April, also einen Tag, bevor man Prince tot auffand, gebeten worden, dem gesundheitlich angeschlagenen Star zu helfen. Die dringende Empfehlung des kalifornischen Arztes lautete, Prince mit dem Medikament Buprenorphin zu behandeln, mit einem Medikament also, das beim Entzug von einer Opioid-Sucht eingesetzt wird.

Woran auch immer er gestorben ist, die Popkultur hat eine „kreative Ikone" (Obama) und „revolutionären Künstler mit unendlichem Talent" (Mick Jagger) verloren. Prince war in der Tat ein außergewöhnlicher Songschreiber, großartiger Gitarrist und Multiinstrumentalist - er soll etwa 15 Instrumente beherrscht haben - und er war als Sänger einzigartig. Kein anderer Musiker hat eine solch stimmige und unverwechselbare Mixtur aus Funk, Soul, R&B, Hardrock, Psychedelia, Elektropop, Gospel-, Jazz- und Dancefloor-Elementen kreiert wie Prince.

Mit 13 Millionen verkaufter Exemplare seines Albums „Purple Rain" (1984) stieg der am 7. Juni 1958 in Minneapolis als Sohn eines Jazz-Pianisten und einer Jazz-Sängerin, geborene Prince Roger Nelson nicht nur zum erfolgreichsten, sondern auch zum innovativsten schwarzen Musiker in der zweiten Hälfte der 80er Jahre auf. Weitere Meilenstein-Alben wie „Sign O' the Times" und „Lovesexy" beförderten noch seinen Ruhm als kreativer Superstar.

Doch Ende der 80er setzte eine künstlerische Flaute ein. Prince machte nur noch Schlagzeilen mit dem Verwirrspiel um seinen Namen (The Artist Formerly Known As Prince, TAFKAP, Symbol), mit dem zweifelhaften Sklavenhalter-Vorwurf gegenüber seiner Plattenfirma, der er zuvor den bis dato höchst dotierten Plattenvertrag aller Zeiten abgerungen hatte und mit dramatisch rückläufigen Plattenverkäufen und musikalischen Ideen.

Doch dann erkämpfte er sich innovatives Terrain zurück. Seine Dreifach-CD „Crystal Ball" von 1998 verweigerte sich gänzlich den herkömmlichen Vermarktungs- und Vertriebswegen und wurde zunächst ausschließlich über das Internet propagiert und vertrieben.

Auch mit seinem Album „Planet Earth" vom Juli 2007 sorgte er mit einem ausgefallenen Vertriebs-Clou für Schlagzeilen. In England brachte er das Album als Gratisbeilage einer Tageszeitung unter die Leute. Bei seiner anschließenden Tour erhielt jeder Konzertbesucher das Album als Dreingabe zum Konzertticket. Bei seiner Plattenfirma machte er sich mit solchen Aktionen keine Freunde. Aber die Aufmerksamkeit der Medien und Fans war ihm gewiss. Solche PR-Aktionen schienen auch nötig zu sein, denn die Pop-Öffentlichkeit war zwar noch immer sehr an ihm interessiert, an den Konzerten übrigens mehr als an seinen Alben der letzten Jahre, aber an die Mega-Erfolge der 80er Jahre konnte er nicht mehr anknüpfen.

In seinem Album „Musicology" von 2004 hat er ungewollt sein eigenes Schicksal besungen: er ist Geschichte - aber immer noch hörenswert.

Von seinem kreativen Potenzial her, hätte er den Stellenwert von Michael Jackson nach dessen Affären einnehmen und damit den King beerben können. Aber er blieb der ewige Prinz am Hof des schwarzen Pop.

 Prince hat den blauen Planeten verlassen. „Planet Earth" heißt das starke Titelstück des Prince-Albums, das im Juli 2007 veröffentlicht wurde und für Schlagzeilen sorgte, nicht so sehr wegen der Musik, sondern erst mal wegen eines ausgefallenen und  umstrittenen Vertriebs-Gags.

In Großbritannien beglückte er seine Fans mit einer leicht schrägen Idee. Er brachte das Album „Planet Earth" auf ungewohnte bis seltsame Weise unter die Leute - und zwar als Gratisbeilage einer Tageszeitung. Einfach so. Holst du dir die Zeitung aus dem Briefkasten, liegt das neue Prince-Album dabei zwischen Werbeprospekten für Haushaltsgeräte, Babywindeln und Baumarktangebote. Bei seiner anschließenden Tour erhielt jeder Konzertbesucher das Album als Dreingabe zum Konzertticket. Bei seiner Plattenfirma machte er sich mit solch spendablen Gratis-Aktionen keine Freunde. Aber die Aufmerksamkeit der Medien und Fans war ihm gewiss. Solche PR-Aktionen schienen auch nötig zu sein, denn in der jüngeren  Vergangenheit war die Pop-Öffentlichkeit zwar noch immer sehr an Prince interessiert, an den Konzerten übrigens mehr als an seinen Alben der letzten Jahre, aber an die Mega-Erfolge der 80er Jahre konnte er nicht mehr anknüpfen. Alle warteten auf eine Wiederholung seines phänomenalen Welterfolges „Purple Rain" von 1984. Kritiker wollten seinen Song „The Holy River" von 1996 als ein Pendant zu „Purple Rain" verstehen, zumal das Dreifach-Album „Emancipation", dem der Song „The Holy River" entstammt, einerseits die Emanzipation, gleich Befreiung von seiner alten Plattenfirma feiert, die ihn angeblich so lange geknutet und gegängelt hatte, andererseits ließ das Album auch die emotionale Krise spüren, in der Prince damals steckte, weil in dieser Zeit sein Sohn schon kurz nach der Geburt gestorben war. Den Herzschlag seines verstorbenen Kindes hatte Prince in den Grundrhythmus seiner Songs sozusagen eingewoben, nicht nur spirituell, sondern auch konkret gesampelt. Um so mehr konnte man besonders intensiven Ausdruck heraushören aus Songs des Albums „Emancipation", so etwa auch bei „The Holy River", ein Song aus dem 3-fach Album „Emancipation", veröffentlicht im November 1996 - und mit Platz 18 in den britischen Charts eher enttäuschend für einen Topstar wie Prince. „Drei CDs mit raren Momenten der Inspiration und einer schieren Überfülle von Material mit einer Neigung zu ausufernden Seltsamkeiten" - so urteilte ein Kritiker nicht unzutreffend über das Triple-Album „Emancipation", über das Prince selbst damals etwas großspurig verkündete, für dieses Werk sei er geboren worden. Viele Kritiker sahen es anders und auch das gemeine Fan-Volk wollte dieses Werk nicht so recht würdigen respektive kaufen. Man sprach schon vom gesunkenen Stern und nicht nur vom „sinkenden .." Doch Prince kämpfte sich wieder in die Arena der Gladiatoren zurück.

In seinem Album „Musicology" von 2004 hat er ungewollt sein eigenes Schicksal besungen: er ist Geschichte und bleibt doch in der Gegenwart - denn er ist noch immer hörenswert. Da reiht er sich ein in die Historie der schwarzen Musik, in der Prince sicher ein wichtiges Kapitel aufgeschlagen hat und damals auch noch immer weiterschrieb

Im Text wie in der Musik des Titelstücks „Musicology" verneigt sich der kleine Prinz des schwarzen Pop, zieht den Hut vor den historischen Stars der Funky Music wie etwa Earth Wind and Fire, James Brown und Sly Stone, die er namentlich im Text nennt und in seiner „Musicology" verewigt. Die Grunderkenntnis, der Hautlehrsatz seiner funky Wissenschaft „Musicology" lautet: „Don't Stop Dancing" - und: „Musik ist eine Gottesgabe" - und: Diese Gabe beherrschte er zweifellos. Alle Instrumente und Stimmen, die in den 4.1/2 Minuten „Musicology" zu hören sind, stammen ausnahmslos aus der Hand- und Mundarbeit von ihm, dem Artist, der seit dem Jahr 2000 wieder Prince hieß.

Im Ausklang des Titelstücks seines Albums von 2004 „Musicology" dreht der Narziss Prince am Sendersuchknopf seines Radios und findet auf allen Wellen seine Klassiker wie „Kiss", „Little Red Corvette" oder „Sign Of The Times". Seine großen Hits aus den guten alten erfolgreichen Zeiten wurden von ihm immer wieder mal als Quelle angezapft. Okay, Selbstzitate sind üblich, macht doch fast jeder. Aber Prince bediente sich doch ziemlich ungeniert aus seiner eigenen Kiste, in der die musikalischen Elemente seiner großen Hits verwahrt sind. Selbstzitate hört man auch im Album „Planet Earth" von 2008. Wohlmeinende nannten das, er habe seinen eigenen Stil kultiviert, oder sei zu seinen Wurzeln zurückgekehrt, was ja auch nicht ganz falsch ist. Das Album knüpfte also an seine eigene Funk-Pop-Vergangenheit an, ist in der musikalischen Quersumme sicher nicht als wirklich innovativ zu bezeichnen, sondern präsentiert sich als Weiterführung, zum Teil auch Verfeinerung des von Prince bekannten Stilmixes aus Funk, Soul und Pop, teilweise auch recht vergnüglich anzuhören, wenn man etwa in der Melodik des Songs „Guitar" alte vertraute Bekannte wieder trifft, das heißt vertraute bekannte Melodien, die man von Hits wie den von ihm selbst zitierten recht gut kennt. Der Song „Guitar" bietet nicht nur die Wiedererkennung von Melodien aus „Kiss" etc., sondern auch das Wieder-erinnert-werden an die Attitüde des monomanischen Narzisses und Ego-Typs, wenn er im Refrain seinem Baby nicht ganz ohne Ironie zu verstehen gibt: Ich liebe dich Baby, aber nicht so sehr wie meine Gitarre.

Für den Workaholic und Maniac Prince, der gleichzeitig 4 CDs auf einmal in einer Box über das Internet vertreiben wollte, hätte dieses Projekt auch ein Desaster werden können, denn wer kauft denn für teuer Geld gleich 4 CDs auf einmal blind und auf gut Glück und das auch noch über einen damals unbekannten Vertriebsweg Internet-Bestellung. Aber es klappte. Erst nachdem ohne große Werbung 85 Tausend Vorbestellungen eingegangen waren ließ Prince 100 tausend CD-Boxen herstellen und lieferte sie über seine eigene Firma aus. Mit dieser CD-Box, die gänzlich unter eigener Regie entstand und in Eigen-Regie vertrieben wurde, wollte Prince den Beweis dafür erbringen, dass es der Künstler ist, der die kreative Power hat und den Erfolg bringt. Und nicht etwa die Plattenindustrie, wie es viele Konzernbosse gerne glauben machen wollten. Prince stand nun gänzlich auf eigenen Füßen, ließ sich von niemandem mehr reinreden, außer vielleicht von seiner Frau Myte, die ihn ins Reich der Esoterik eingeführt habe, so konnte man lesen. Mayte und er beschäftigten sich z.B. während der Arbeiten am 96er Dreifach-Album „Emancipation" mit Ägyptologie und vor allem mit den Pyramiden. In einem 96er Interview sagte der Hobbyforscher Prince, die Ägypter hätten aus dem Pyramidenbau eine astronomische Wissenschaft gemacht. Alleine aus der Konstellation der Pyramiden könne man ablesen, wann sie erbaut wurden. Sein Album „Emancipation" enthalte diverse versteckte Botschaften zu diesem Thema. Deshalb habe er sich z.B. die Mühe gemacht, jede der drei CDs exakt auf eine Laufzeit von 60 Minuten zu produzieren. Verschiedene Zeithinweise habe er eingebaut. Auch habe er die Herzfrequenz seines verstorbenen Babys gesampelt und als Rhythmus genutzt für seinen Song „Sex In The Summer".

Seine krachende Metalgitarre ließ Prince losrocken im Song „So Far So Pleased" aus seinem Album „Rave Un2 The Joy Fantastic", das im November 1999 erschien. Damals nannte er sich immer noch „The Artist", was die Kurzform war seines zuvor eingebürgerten Namens The Artist Formerly Known As Prince", abgekürzt zu TAFKAP, dann folgte das namenlose Symbol, eine Eigenkreation aus dem Mars- und dem Venus-Symbol - also nannte man ihn eine Weile „Symbol", was aus einem hessischen Mundart-Mund wie Simbel klang. Das war schon ein etwas seltsamer Vorgang. Erst hatte Prince mit seiner Plattenfirma den seinerzeit höchst dotierten Plattenvertrag ausgehandelt, nämlich 100 Millionen Dollar für sechs Musikalben, dann wurde ihm klar, dass er sich und die Rechte an seinen Songs verkauft hatte, rebellierte deshalb gegen den goldenen Käfig, protestierte gegen die Versklavung, schrieb sich das Wort „Slave", Sklave, auf die Wange und verweigerte die Verwendung seines Namens Prince in den Jahre 1993 bis 2000, bis zum Ende seines Vertrages mit der Plattenfirma. Neben den 6 Vertragsalben für seine angebliche Sklavenhalter-Plattenfirma, die entweder belanglose Proforma-Platten waren, um seine Plattenfirma abzustrafen oder vor allem Altmaterial in verschiedenen Zusammenstellungen enthielten, veröffentlichte er nebenher 5 weitere neue, sozusagen ernst gemeinte Alben auf Independent-Labels, die aber auch nicht sonderlich erfolgreich waren oder die Kritiker völlig überzeugt hätten. Erst sein 4-fach-Album „Crystal Ball", das im März 1998 noch immer unter „Symbol" erschien, konnte die Kritiker wieder überzeugen, tauchte aber nicht in den Charts auf, weil Prince alias Symbol den damals noch innovativen und verwegenen Vertriebsweg Internet gewählt hatte. Im Radio war nichts davon zu hören, in der deutschen Musik-Presse konnte man anfangs so gut wie nichts darüber lesen. Der Grund dafür, es gab keine Freiexemplare für Medien und Journalisten, es gab keine normale Plattenfirma und deshalb auch keinen normalen Vertriebsweg. Die meisten Plattenläden zuckten mit den Achseln, man könne das Album nur und ausschließlich übers Internet bestellen. Kostenpunkt 50 Dollar plus 25 Dollar Fracht nach Deutschland im Voraus fällig. Doch dann gab es die Box sehr schnell auch über Importeure und große Plattenläden zu kaufen und zwar für 139,- DM, damals noch im Jahre 1998. Also habe ich mir auch eine Box damals gekauft und bin bis heute der Meinung, dass sich die Investition gelohnt hat. Gleich der erste Titel, das Titelstück „Crystal Ball" ist ein kreatives Meisterwerk voller origineller Arrangement-Ideen. Bis auf die gekonnt eingesetzten Streicher und die Frauenstimme hatte der Multi-Instrumentalist Prince hier wiedermal alles alleine gemacht.

Der Spannungsbogen dieses Titels hat einen langen Atem für Pop-Verhältnisse Anno 1998. Über spannende 10 Minuten Länge erstreckt sich das Titelstück der 4-fach -Box „Crystal Ball" von Prince. Der Vertriebsweg Internet, den Prince mit dieser Box erfolgreich ausprobierte, kam damals einer kleinen Revolution gleich, eröffnete dieses Beispiel doch Abertausenden von Musikern die Perspektive auch gänzlich ohne Plattenindustrie ein Publikum zu finden und Musik in Eigenregie zu vertreiben. Für die Zeichen der Zeit hatte Prince schon immer ein Gespür, wofür schon sein legendäres Album „Sign Of The Times" von 1987 Zeugnis ablegte

Auch die Zeichen der Zeit, in der wir seit Anfang des 21. Jahrhunderts leben, hat er als wacher Beobachter erkannt. In seinem Album „Musicology" ging er die US-Regierung frontal an und warf ihr im Text des Songs „Cinammon Girl" vor, sie habe den Terror des 11. September nur als Alibi benutzt für einen unbedingt gewollten Krieg. „Die Trommeln des Krieges werden geschlagen in Babylon, der blutrote Himmel leuchtet hell.. Kinder sterben auf beiden Seiten", so heißt es im Songtext. Pop und Politik, Funk und Anklage findet sich nicht nur in diesem Song des Albums „Musicology", das aber natürlich kein dezidiert politisches Album ist, sondern in der Tradition eines Marvin Gaye steht, der beispielhaft die politische und gesellschaftliche Realität Anno 1971 in seinem berühmten Song „What's Going On" reflektierte. Und genau diese Frage stellt auch Prince im relaxed und doch funky rhythmisierten und clever arrangierten Song „Dear Mr. Man". In diesem Song wendet sich Prince direkt an die Obrigkeit, schreibt einen offenen Brief an den herrschenden Machtinhaber, sei es der Bürgermeister, Gouverneur oder Präsident. Was läuft falsch in dieser Welt heutzutage, so lautet die Eingangsfrage, gefolgt von der Feststellung, dass die Führer darauf nicht die richtigen Antworten geben. Wer sei es denn, der sage, Töten sei eine Sünde und gleichzeitig jeden Krieg beginnt? Wer sagte, dass Wasser die kostbarste Lebensressource sei und gleichzeitig riesige Öllachen in den Weltmeeren zu verantworten habe? Wer würde einen in den Ohren liegen, man solle nur brav rund um die Uhr arbeiten, dann könne man sich ein Haus leisten mit Blick auf die Zigaretten-Plakate auf der Wand des Hochhauses nebenan? Es hat keinen Sinn zur Wahl zu gehen, es bleibt das alte Lied, es gibt nur einen neuen Namen.  Schwarze müssen nicht mehr hinten im Bus stehen, aber das Gefühl ist immer noch das Gleiche. Nichts ist fair in Sachen Wohlfahrt. Es gibt keine Unterstützung bei Aids. „Mister Man", wir wollen diesen Brief beenden mit vier Worten: wir sind deiner überdrüssig.

Höflich wird er angesprochen: „Dear Mr. Man", aber die Kritik am herrschenden Machthaber Mister Man ist unbotmäßig und unmissverständlich. Die Kritik mag allgemein bleiben und der Kritisierte anonym, aber Prince macht auf jeden Fall den Mund auf und übt Kritik am herrschenden System, was im amerikanischen Pop des Jahres 2004 nicht gerade sehr populär war.

Im Oktober 1978 erschien sein erstes Album „For You", danach sind 30 weitere Studioalben hinzugekommen, die Live-Alben, Kompilationen etc. nicht mitgerechnet. Seine letzten beiden Alben „HITnRUN Phase One" (VÖ 07.09.2015) und „HITnRUN Phase Two" (VÖ 21.01.2016) machten eindrucksvoll hörbar, dass sich nach längerer schöpferischer Durststrecke ein kreativ wieder erstarkter Prince zurück gemeldet hat, was die Hoffnung nährte, dass mit ihm auch in Zukunft wieder zu rechnen ist. Diese Zukunft wird es nicht geben. Am Donnerstag, 21. April 2016 starb Prince im Alter von 57 Jahren unter noch nicht geklärten Umständen. Dieser Verlust wiegt schwer.

Nothing compares to Prince.

 

Kulturpreisverleihung der Stadt Rodgau

Laudatio für Thomas Langer, 26.03.14, 19 Uhr, Bürgerhaus Nieder-Roden, 63110 Rodgau, Römerstraße 15 - Laudator: VR                        

 Meine Damen und Herren, Herr Bürgermeister, Herr Kulturdezernent, lieber Preisträger,

Es soll ja noch immer Menschen geben, auch solche mit Experten-Nimbus und Fachverstand, die das Schubladen-Denken und Kästchen-Einordnen nicht lassen können. Bist Du Jazz-Connaisseur oder Rockfan, oder Jazzrock-Anhänger oder Lounge-Jazz-Rock-Pop-Soul-Ambient-Groove-Worldbeat-Mix-Crossover-Fusion-Fuzzy. Bekenne: Which side are you on? Das ist für viele Zeitgenossen noch immer eine Glaubensfrage.

Ich glaube, unser Kulturpreisträger, der hier zu feiern ist, kann darüber nur milde lächeln. Schließlich ist das Wort „Scheuklappen" für ihn ein Fremdwort und tatsächlich spielt er ständig mit Musikern aus allen möglichen, wenn's geht auch unmöglichen Genres.

Und das verdammt gut und gekonnt. Ein grenzenüberschreitender, souveräner Gitarrist wie Thomas Langer spielt mit Jazzgrößen wie der deutschen Hammond-Organ-Virtuosin Barbara Dennerlein, dem US-amerikanischen Fusion-Musiker Bob Mintzer von der Band Yellowjackets, dem holländischen Trompeter Ack van Royen und dem ungarischen Saxophonisten Tony Lakatos und schreckt auch vor Deep Purples „Smoke On The Water" nicht zurück, sondern findet im Gegenteil in den altbekannten Rauchschwaden überm Wasser noch ungeahnte, funkelnde Tonpartikel und lässt hinter den Schleiern von Dunst und Rauch klare Linien und neue Konturen erkennen. Und natürlich bleibt dieser von unzähligen Muckern und Oldie-Bands geschundene Ur-Riff aus der Steinzeit des Hard and Heavy-Rock - Dab.Dap-Daa, dapdap-da-daa, natürlich bleibt dieser Prototyp des krachenden Rock-Riffs unter den kreativen Händen und den spielfreudigen Fingern von Thomas Langer nicht unverändert, sondern wird in andere Musikwelten transformiert. Zitat „Die Idee „Smoke On The Water" als Bossa Nova zu spielen, ist nicht nur lustig, sondern funktioniert auch musikalisch bestens", schrieb die Rezensentin Angela Ballhorn in ihrer Besprechung des Albums „The Beat Goes On" des Trios Thomas Langer, Wolfgang Schmid und Daniel Messina.

Und gleich noch ein vielsagendes Zitat, diesmal von Wolfgang Spindler, geschrieben für die Frankfurter Rundschau:

„Langer verfügt nicht nur über eine beneidenswerte Technik, sondern auch über ein Melodiegespür von individuellem Rang, und er schafft es als Solist fast mit Leichtigkeit, Jazz-Klassiker, die nicht für sein Instrument geschrieben wurden, mit überraschenden harmonischen Wendungen, mit perlenden Arpeggios und ungewöhnlichen Voicings in neue Kleider zu hüllen. Langer spielt so herrlich unbelastet wie früher Volker Kriegel, Attila Zoller oder Pat Metheny". Zitatende. Wenn das keiner Verleihung eines Adelstitels gleicht. Aber wir sind ja hier bei der Verleihung des Kulturpreises der Stadt Rodgau für das Jahr 2013 an Thomas Langer. Und da schrieb doch ein Journalisten-Kollege mit leicht indigniertem Tonfall, Zitat: „Dass der bekannte Jazzgitarrist und Komponist den Kulturpreis erst jetzt erhält, mag manchen wundern. Denn mit Langers Namen verbinden Kenner seit langem nicht nur feine Jazz-, Blues- Und Rockmusik, der Musiker, Komponist und Dozent ist mit Unterstützung vieler ehrenamtlicher Helfer auch die treibende Kraft hinter den regelmäßigen Jazzkonzerten im Jügesheimer Maximal." Zitatende - Die Verwunderung, die der Journalist Andreas Hartmann hier äußerte, die lassen wir hier mal im Raume stehen und soll sich auch langsam setzen. Im Januar feierte die von Thomas Langer kuratierte Jazz Night bereits die 100. Ausgabe. Zu diesem stolzen Jubiläum standen auf der Maximal-Bühne neben Thomas Langer der ehemalige Passport-Bassist Wolfgang Schmid, der argentinische Schlagzeuger Daniel Messina, der Saxophonist der hr-Big Band Tony Lakatos und die Sängerin Annika Klar, eine edle Musikertruppe zum Jubiläum dieser edlen Konzertreihe, die natürlich weitergeführt wird. Wohin wird es Thomas Langer noch führen? Musikalisch sicher weit, womöglich ungegrenzt in noch unerschlossene Räume. Vom Lebensstandort ist er bodenständig geerdet. Geboren in Frankfurt, in Rodgau aufgewachsen, ging er als junger Musiker in die USA, um dort bei weltbekannten Jazzern zu studieren. Er war dort erfolgreich, wurde geehrt unter 600 Mitstudenten mit dem „outstanding stylist award" des „Guitar Institute of Technology, Los Angeles". Er hätte dort womöglich Karriere machen können, aber er kehrte wieder zurück in die Heimat, irgendein hochnäsiger Snob könnte sagen: „in die Provinz". Aber für einen Künstler ist ja nicht der geographische Ort maßgebend, in dem er sich aufhält, sondern nur der Raum, in dem er sich kreativ bewegt. Aber für den bodenständigen Thomas Langer könnte gerade dieses heimatliche Umfeld Rodgau der Nabel, Dreh- und Angelpunkt auch für seine Arbeit als kreativer Musiker sein. Hier lebt er mit seiner Frau und den beiden Töchtern. - Und von hier hebt er ja auch immer wieder ab.

Sein Gitarrenspiel klingt manchmal wie Gleitschirmfliegen, man höre sich nur seine Komposition „Laminar" an. Er weiß, was laminare Luftströmungen sind - und auch damit kennt er sich ziemlich gut aus. Er praktiziert das Gleitschirmfliegen als weitere Passion, spielt mit dem Aufwind und dreht seine Runden mal in den Alpen, mal in Frankreich, oder in den deutschen Mittelgebirgen, sogar auch über den Dutch Mountains, den Dünen Hollands. Und nicht genug damit, er schwimmt und rennt und radelt auch noch so manchen Konkurrenten in Grund und Boden. Er ist Triathlon-Athlet. Beim letzten olympischen Triathlon von Rodgau belegte er mit 2 Stunden und 18 Minuten Platz 10 in seiner Altersklasse. Und beim Rödermark Lauf über 10 Kilometer im letzten April belegte er mit einer Laufzeit von 41 Minuten Platz 9 im Gesamtklassement und Platz 2 in seiner Altersklasse. 10 Kilometer in 41 Minuten!! Und wie rasend schnell ist der Mann erst auf seinem Gitarrengriffbrett. Und wie viele Kilometer mag er dort schon absolviert haben? Diese Triathlon-Ausdauer und Zähigkeit kommt ihm natürlich auch bei den Jazz Nights zu gute, die er allmonatlich für die Kulturinitiative Maximal organisiert. Die bereits erwähnte, beeindruckende Zahl von 100 Jazz Nights ist längst überschritten. Am Freitag dem 4.4. folgt Jazz Night Nummer 102 mit einem Pat Metheny-Tribute-Konzert. Die Maximal-Leute ,der ganze Rodgau und die halbe Jazz-Welt, sie alle können sich auf was gefasst machen. Dieser Mann hat Stehvermögen, der ist Triathlon-gestählt. Der schafft auch locker die tausendste Jazz Night.

Und seine unermüdliche Tätigkeit als Dozent, Gitarrenlehrer und Mentor wird dafür sorgen, dass es hier überall von Nachwuchstalenten und aufstrebenden Gitarristen nur so wimmelt. Man lese in seinem Gästebuch nur zwei von vielen Dankesschreiben: „Hallo Thomas, ich bin super happy, dein Schüler zu sein. Außerdem bin ich immer wieder erstaunt darüber, wie groß dein musikalisches Vokabular und wie gut dein Gefühl für Melodien und Rhythmik ist. Dein Unterricht öffnet Türen", schreibt Jansen aus Oldenburg. - „Hallo Thomas, Deine virtuosen Fähigkeiten auf der Gitarre und deine Kenntnisse in Harmonielehre sind beeindruckend. Mindestens genauso ausgezeichnet sind deine pädagogischen und didaktischen Fähigkeiten im Gitarrenunterricht. Es ist immer wieder verblüffend, wie präzise und schnell du die Fehler deiner Schüler analysierst und ihnen die richtige Hilfestellung gibst. Gruß von deinem Schüler Gerhard."

Und vielleicht noch ein allerletzter aktueller Eintrag im Gästebuch von Thomas Langer: „Hi Thomas, I really do appreciate your fusion-style playing and how you build up varied soundscapes on electric and acoustic guitar. I really learned a lot from your interesting wah wah-technics. Thanks and all the best, yours sincerely Jimi Hendrix."

Oh, sorry; da muss mir jetzt bei der Recherche irgendein Fehler unterlaufen sein. Dieser Gästebuch-Eintrag ist nicht aktuell, sondern von Anfang 1970. Tschulligung.

Thomas Langer ist zweifellos ein außergewöhnlicher Gitarrist und dazu ein Komponist von Format. Man erinnere sich nur an sein zweites Album „Kalalak" von 1999. Gleich das erste Stück, ein melodiöser Popjazz-Titel weiß musikalisch zu überzeugen und ist überschrieben „Alpenhauptkamm", nach dem hochalpinen Tourenweg, der entlang der höchsten Gipfel der Alpen verläuft. Und auch diesen Alpenkraxelweg hat er sicher schon in Rekordzeit bewältigt. Die Musik zum Alpenhauptkamm vermittelt jedenfalls tolle Aussichten und wunderbare Perspektiven. „Kalalak" ist überhaupt ein großartiges, nuancenreiches Album, mit viel Klangfantasie ausgestattet und mit schönen, mal erzählerischen, mal atmosphärischen Stimmungsbildern musikalisch inszeniert. Mal hört man den Chorgesang von Kindern einer Schulklasse auf einer kapverdischen Insel, eingerahmt von einem behutsamen, kammermusikalisch klingenden Arrangement. Mal beschreibt er eine aufregende Busfahrt im Trubel des Asphaltdschungels einer südeuropäischen Metropole, musikalisch veranschaulicht mit einer dynamischen Rush Hour aus flinken Gitarrenlinien, pulsierenden Bassklängen und Tango-Tönen des Akkordeons. Er lässt den Zuhörer mitreisen zum südlichsten Zipfel der Insel La Palma, um dort in Fuencaliente die warmen Quellen zwischen erloschenen Vulkanen zu besuchen. Und dabei erhält die südländische Melodik und Rhythmik der Komposition eine dunkle Färbung, als wolle sie andeuten, dass die Vulkane San Antonio und Teneguia von Fuencaliente jederzeit wieder ausbrechen können. Dann rockt er wie der Teufel, oder wie der Gitarrengott Clapton, mit plakativen Riffs im Stile von Cream, ebenso kraftvoll wie clever im Titel „John Bürgerhaus", in dem er seine E-Gitarre mit WahWah-Pedal und Verzerrer alle Tricks und Licks aufführen lässt, die jedem berühmten Rock-Gitarrero zur Ehre gereichen würden. Erholung gönnt er anschließend dem Zuhörer im freundlich elegischen und ruhigen Stück, das auch so heißt: „Die Ruhe" - Klammer auf: „Mit ins Bett" Klammer zu. Und dann führt er eine Art Müsettwalzer auf - im intensiven dialogischen Walzertanz zwischen Gitarre und Bandoneon im lustig überschriebenen Titel „Schneelärm". Seine humorvolle Ader zeigte sich auch schon mit der Titelüberschrift „John Bürgerhaus", was ein typischer Musiker-Joke ist, entstanden beim unterwegs sein auf Tour, wo dann einer fragt: „wo spielen wir denn heute?", worauf die Antwort kommt: „schon en Bürgerhaus", woraus dann kalauernd „John Bürgerhaus" wurde. Nach oben gezogene, lächelnde Mundwinkel zeigen sich auch im Titelstück „Kalalak", so heißt ein heiliges Fabelwesen aus dem Dschungel Madagaskars, an das die Einheimischen glauben, weil es über magische Kräfte verfüge. Es soll menschliche Züge haben, was sich vor allem an den Füßen des Fabelwesens zeige, die den menschlichen Füßen sehr ähnlich seien, mit dem Unterschied, dass dessen Zehen nach hinten und die Fersen in Laufrichtung ausgerichtet seien. Dazu passe auch, sagt er schmunzelnd, dass Kalalak sich gleichermaßen vorwärts wie rückwärts lesen lasse. Das alles hat er mir gestern erzählt, als er mich besuchte, weil wir ein Interview mit ihm aufgezeichnet haben, das in Ausschnitten morgen Abend ab 23 Uhr innerhalb eines einstündigen Thomas Langer-Porträts im Webradio Byte.FM zu hören sein wird (Wiederholung am kommenden Samstag um 15 Uhr)

Am Ende dieses hoch interessanten, amüsanten und für mich erfreulichen Gesprächs habe ich ihn noch gefragt, welche Musiktitel er denn heute anlässlich der Verleihung des Kulturpreises an ihn spielen würde, da schnappte er sich mein alte Klampfe, sagte: „wahrscheinlich den" und spielte dann eine hinreißende Fassung des Beatles-Klassikers „Here There and Everywhere. Und mein Beatles-Herz frohlockte.

Ladies and Gentelmen. Thomas Langer sei gepriesen: hier, dort und Everywhere.

 

Sing Hallelu-Ja! Es umweihnachtet uns sehr

Wenn auch derzeit der Schnee nicht leise rieselt, so berieselt uns doch der Klang der Klingglöckchen, Schalmeien und Posaunen. Leise kriselt der schnell sich meldende innere Sensor und sendet leise Warnsignale, ob der laut plärrend sich ausbreitenden Weihnachts-Hysterie. Oder freut sich das innere Kind über die vielen Lichtlein und die rot kostümierten Männer mit den weißen Rauschebärten?

Kling Glöckchen Humba Täterä. Was hat die Weihnachtszeit mit der Karnevalszeit zu tun? Beides sind begrenzte Jahresabschnitte, in denen man sich saisonale Gefühle und Verhaltensweisen erlaubt, die während des restlichen Jahres so eher nicht vorkommen. Man hört und singt z.B. Lieder, die zu anderen Zeiten völlig unpassend wären und man überlässt sich bestimmten Gefühlen, die danach wieder eingemottet und wie der Nikolausmantel und das Indianerkostüm wieder in den Schrank gehängt werden. Und alle Jahre wieder kommen sie erneut zum Vorschein. Sind das Rituale, kollektive Menschheitsbedürfnisse? Macht man einfach mit, weil es alle machen, oder weil es ansteckt, wenn andere einem bestimmten Fieber verfallen? Ist es die immerwiederkehrende, unstillbare Sehnsucht nach einer heilen friedlichen Welt, wenn jedes Jahr aufs Neue die verkratzte Weihnachts-Platte der Wiener Sängerknaben aus den Tiefen des Phonoschranks gekramt wird? Oder nährt sich das aus einem kollektiven schlechten Gewissen, das sich auch in den allweihnachtlichen Spenden für die SOS-Kinderdörfer, für die Caritas und Bot für die Welt ausdrückt, man müsste ja eigentlich viel mehr tun, man müsste ja eigentlich selbst ein stets friedlicher Zeitgenosse und liebevoller Mitmensch sein. Also bemühe ich mich jetzt ein paar Tage lang darum, trage mein Scherflein bei und bin für diese begrenzte Zeit davon überzeugt, dass es wichtig wäre, wenn Brüderlichkeit, Barmherzigkeit, Liebe und Frieden auf Erden endlich Einzug halten würden. Und dann, wenn das schlechte Gewissen beruhigt ist, die Sonntagsreden gehalten sind, wenn diese Feiertagsgedanken von Frieden und Liebe wieder verblassen, dann geht man halt wieder über: zum alltäglichen Stechen und Hauen, Betrügen und Lügen, Austricksen und Übern-Tisch-Ziehen - pflegt also wieder die Tugenden der Arbeitswelt. Ist das so? Oder vielleicht doch ganz anders?

Vielleicht braucht man immer wieder mal ganz bestimmte Gefühle, die man nicht immer haben kann, derer man sich aber immer wieder mal vergewissern muss, dass es sie noch gibt und dass man sie aktivieren kann, wenn man sie vermisst. Nach dem Tageslärm braucht man die Stille Nacht  - wie man nach dem zu-Tode-betrübt-sein das Himmel-hoch-jauchzende braucht und nach der Erdenschwere und den schlechten Nachrichten des Alltags die gute Kunde vom „Himmel hoch".

Immer leiser wird die frohe Botschaft von Frieden und Liebe, immer mehr wird sie übertönt von den Marktschreiern, falschen Propheten und Seelenverkäufern. Und doch lässt sich diese Botschaft nicht völlig niederbrüllen, immer wieder taucht sie in schöner Regelmäßigkeit zumindest einmal im Jahr aus dem Dickicht der Meinungen, Konzepte und Weltbilder wieder auf. Die Botschaft mag sich wandeln, aber in ihrem Kern bleibt sie gleich: „Happy Xmas - War is over if you want it" - Frieden und Liebe sind machbar, Herr Nachbar, wenn du es willst und heute damit anfängst. Die alten Lieder wandeln sich, werden neu interpretiert, werden auf jeden Fall immer wieder aufgegriffen, denn tatsächlich haben viele der alten Weihnachtslieder wunderschöne Melodien. Und man wundert sich schon ein wenig, dass selbst Power-Hals-Rock-Röhren plötzlich „Stille Nacht" singen, Metal-Bands den Schnee leise rieseln lassen, Düster-Grufties intonieren „Lasst uns froh und munter sein" und Hiphop-Jünger rappen und scatchen „Ihr Kinderlein kommet".

Plötzlich sind Ochs und Esel in Bethlehems Stall ober-cool und die Hirten sind gute Kumpels und Teil der Community. Kommet ihr Hirten, machen wir einen drauf. Kommet ihr Hirten, ihr braven Schäfchen und fürchtet euch nicht. Warum sollten wir uns auch fürchten und wovor, vor wem? Vor Knecht Ruprecht mit der Rute, vor den Socken unterm Baum, geschenkt von Tante Ute, oder davor, dass die Weihnachtsgans womöglich die Vogelgrippe hatte? Kommet ihr Hirten, ihr Männer und Frauen, kommet das anzuschauen, was und wie ihr es sehen wollt.

In der Weihnachtszeit kommen nicht nur die Hirten, da kommt regelmäßig auch die Sehnsucht auf nach großen Gefühlen, nach inniger Ergriffenheit, nach kindlicher Naivität und dem blauäugigen Glauben an Mitmenschlichkeit, an eine bessere Welt, in der die Menschen die helfende Hand ausstrecken und nicht den spitzen Ellenbogen ausfahren.

Zu anderen Zeiten würde man das als dummes Zeug abtun, als spinnerte Wirklichkeitsleugnung, als sentimentale Verirrung. Aber jetzt ist die Zeit da und die Bereitschaft für das Umarmen von Gefühlen, die man sonst eher auf Distanz hält. Warum auch immer drängt sich gerade jetzt  in dieser Zeit der Wunsch auf, noch mal mit staunenden Kinderaugen den Lichterglanz trotz aller Düsternis zu sehen. Und trotz aller unschlagbarer Gegenbeweise im alltäglichen Leben möchte man für eine Weile daran glauben, dass es vielleicht doch so einfach ist, wenn es alle nur wollen, dass es mit vereinten Kräften doch möglich ist: Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.

Und plötzlich entdeckt man weihnachtliche Stimmungen in Liedern, die überhaupt keinen weihnachtlichen Hintergrund haben, etwa in Lullabies, Schmuseballaden und Kinderliedern, die man so kennt. Aber gerade diese Wiedererkennung und emotionale Bestätigung des Bekannten, des Wieder-erinnerns, lässt das Kinderherz sich heimisch fühlen. Es ist einem so wohlig vertraut, dieses schöne Lied, über das man in einer anderen Stimmung vielleicht die Nase rümpfen würde, weil man das mit klarem Kopf als zu sentimentalisch und kitschig ablehnen müsste. Doch hier und jetzt, wenn der kalte Verstand in der warmen Brühe des Glückshormons Serotonin schwimmt, da rührt es an, es berührt tief drinnen in der Herzgrube und löst ein schönes, kindlich unschuldiges Gefühl aus, das einfach gut tut - und was sollte dagegen einzuwenden sein.

Was wäre das für ein Weihnachtsfest, wenn sie seine Maria und er ihr Joseph wäre und das Kind in der Krippe ist ihre gemeinsame Liebe. Und in der stillen Nacht würden sie ihr Lager bereiten und die Englein singen Halleluja und die beiden stimmen mit ein, geben sich das Hallelu-Ja-Wort und singen: Ja ja Halleluja. Lasst uns froh und munter sein und uns recht von Herzen freun. Oh du fröhliche, oh du selige wunderbare Zeit der Liebe. Jetzt ihr Kinder wird's was geben, jetzt wollen wir uns aneinander freun, welch ein Jubel, welch ein Leben wird in unsern Adern sein. Ihr Wohl-Gefühle kommet, oh kommet doch all.

Am Weihnachtsbaum die Lichter brennen und er ist entflammt von ihr und sie lodert für ihn. Sie sind für einander Feuer und Flamme. „I Burn For You" singt  die polnische Jazz-Diseuse Anna Maria Jopek nicht so ganz weihnachtlich korrekt, schließlich sollen nur die Lichtlein brennen am Weihnachtsbaume und nicht die liebeshungrigen Menschen unterm Baum.

Wie begeht man Weinachten am besten? Auf einer Skihütte, vorm Kamin, in der Kirche, vor der Glotze oder im Kino, beim festlichen Bankett oder im Bett - oder feiert man mit vielen Freunden oder Gleichgesinnten ein großes Fest: „Merry Christmas Baby" - Nichts hält auf ewig, nichts bleibt wie es war, „Merry Christmas Baby" sagen beide heute immer noch, aber inzwischen zu jemand anderem. Aber eigentlich sind ja alle gemeint, wenn man Frohe Weihnachten wünscht, auch die unsteten, getriebenen Seelen, die umherziehenden Tagelöhner und Landstreicher, auch der arme Schlucker - im doppelten Wortsinne - der auch gerne mal einen ordentlichen Schluck sich hinter die Binde gießt, der trotz seines Elends lacht, sich gegen Väterchen Frost zu wappnen weiß und für alle Fälle, besonders die kalten, immer einen selbstgebrannten Fusel in der Jackentasche bei sich trägt - und sich lachend immer mal wieder einen wärmenden Schluck gönnt, von diesem, seinem „edlen" Tropfen, genannt „Lumpensammlers Traum". Und wenn er dann mal zu viel Wärme getankt hat, dann hebt er geradezu ab, dann fliegt er über die Dächer der Stadt, so wie der Weihnachtsmann, stoppt an einem Haus, schaut durchs Fenster und beobachtet eine Familie bei der Weihnachtsfeier. Die Kinder haben glänzende Augen. Die Familie sitzt am Tisch, es gibt Truthahn mit Bratensauce und zum Nachtisch Eis. Und dann bekommen alle ihre Geschenke und singen „Oh du fröhliche". Vielleicht wird er ja noch eingeladen. Das alles sieht und erlebt er in seinem „Traum des Lumpensammlers"

„The Ragpicker's Dream" ist eine Weihnachtsgeschichte der anderen Art von Mark Knopfler. Die Dämonen kann man für kurze Zeit besänftigen. Ein Waffenstillstand für eine begrenzte Zeit. Für kostbare Momente ist man mit sich und andern einig, ist stimmig und zufrieden und kann den Augenblick genießen. Für kurze Zeit lässt man sogenannte „unrealistische" Gefühle an sich ran, redet sich ein, glaubt sogar daran, dass Frieden auf Erden und Glück für alle möglich ist. Man erfreut sich auf Zeit an alten Melodien und überlässt sich für eine Weile ihrer Schönheit und schönen Botschaft. Doch danach bricht wieder das Elend des Alltags über einen herein. Der Kampf beginnt von neuem, man ist wieder in der Auseinandersetzung mit sich und allem. Und sehnt sich doch gleichzeitig nach innerem und äußerem Frieden. „War is over if you want it - Merry Xmas and A Happy New Year, perhaps it's a good one, without any fear", sangen John und Yoko vor 42 Jahren, daran sei hier mal wieder erinnert. (Der Text basiert auf dem Manuskript meiner "hr3-rebell"-Sendung vom 18.12.2005)

 

 Jocco Abendroth (geboren am 28. August 1953, gestorben am 15. Juni 2007) - Beitrag zu einem Artikel im Journal Frankfurt

„Aggayu", der Eröffnungstitel des Albums „Havana" von Jocco Abendroth, hatte mich damals, 2004, sehr beeindruckt, weil es eine gelungene und seltene Stilmischung aus deutschsprachiger Rockmusik und afro-kubanischer Rhythmik präsentierte. Eine solch organische Verschmelzung von Rockmusik mit deutschen Texten und karibisch-kubanischen Salsa-Elementen hatte man zuvor in Deutschland noch nicht gehört. Seine Begeisterung für die kubanische Musik war nicht aufgesetzt und die karibische Lebensart kannte er nicht nur vom Hörensagen. Anfang der neunziger Jahre kam er auf Einladung von kubanischen Musikern, die er bei Studioaufnahmen in Deutschland kennen gelernt hatte, nach Kuba und blieb dort hängen - später nicht nur freiwillig. Er war fasziniert von Land und Leuten und vor allem von der kubanischen Musik, mit der er sich intensiv beschäftigte, auch mit den rituellen Trommeln und den Heiligen der afro-kubanischen Naturreligion. Ihn faszinierte die Vorstellung, dass mit bestimmten rituellen Grooves gute Geister gerufen werden und natürliche Heilkräfte entstehen. Kuba war für ihn nicht nur eine musikalische, sondern auch eine spirituelle Erfahrung. Er reiste viel durch Kuba und auch oft von Kuba nach Europa und zurück. Man verdächtigte ihn des Drogenhandels und 1993 konnte man in der Frankfurter Rundschau lesen: „Deutscher in Kuba verurteilt, 12 Jahre Haft wegen Kurierdienste für Kokainkartell". Die kubanischen Behörden hatten ein Exempel statuiert. Obwohl Jocco Abendroth seine Unschuld beteuerte und obwohl offenbar keine stichhaltigen Beweise vorlagen, wurde er verurteilt und dann doch nicht für 12 Jahre, sondern für immer noch rund 1000 lange Tage inhaftiert. Er machte aber das Beste daraus und spielte in der Knastband des kubanischen Staatssicherheitsgefängnisses. Wieder zurück in Deutschland schrieb er neue Songs über seine Schicksalsschläge - unter anderem die starken Songs „Tausend Tage" und „Was ist passiert", in dem er von einer „großen dunklen Wolke" über ihm singt. Im Text heißt es: „Was ist passiert mit unsrem Glück, ich find den Weg nicht mehr zurück, ja, ich hab deine Spur verloren, Dein Herz das geb' ich dir zurück, bis auf ein ganz, ganz kleines Stück, vielleicht werd' ich nochmal geboren..."

1987 hatte er mit seinem Debütalbum „Viel zu heiß" und dem Radio-Hit „Herzen müssen brennen" für Aufsehen und Aufhorchen in der deutschen Rockszene gesorgt. Auch wenn die beiden darauffolgenden Alben nicht mehr so viel Aufmerksamkeit fanden wie das Debütalbum, es sprach sich herum, dass es mit Jocco Abendroth eine ernsthafte Größe im deutschsprachigen Rock gab. Vor allem seine Texte wurden allenthalben gelobt. Mit seinem Comeback-Album „Havana" von 2004 hatte sich der musikalisch gereifte Jocco Abendroth erneut als Songschreiber von Format bewiesen.

Was war passiert mit seinem Glück? Jocco Abendroth starb am 15. Juni 2007 nach schwerer Krankheit im Frankfurter Bürgerhospital.

 

 Indorock - (geschrieben am 09.08.13) - Beitrag für einen Artikel von Jean Trouillet zum Thema Indorock

Es muss Anfang 1964 gewesen sein, als ich mit meinen Band-Kumpanen einen Auftritt der Tielman Brothers in einem kurzzeitig existierenden Club in Offenbach staunend erleben konnte. Kurz zuvor hatte ich, vom Beatles-Virus heftigst erwischt, mit Freunden eine Schülerband gegründet, um den Beatles nachzueifern. Wir blutigen Amateure, die sich mühsam die ersten Gitarrenakkorde beibrachten, waren von der Professionalität und dem handwerklichen Können der Tielman Brothers geradezu geplättet. Was wir da mit offenen Mündern sahen und hörten, war Lichtjahre entfernt nicht nur - naturgemäß - von unseren eigenen musikalischen Fähigkeiten, sondern auch von den technischen Fertigkeiten der arrivierteren Beatbands aus unserem lokalen Umfeld. „Wahnsinn, irre! nicht zu glauben", konnten wir nur anerkennend und fast ehrfürchtig mit dem Kopf schütteln.

Was uns nicht gefiel, war das Show-Gebaren der Band mit synchron wedelnden Gitarrenhälsen und Tanzschritten links/rechts im Gleichschritt - nee, das fanden wir zickig, weil aus einer früheren Zeitepoche stammend, mit der wir nix zu tun haben wollten. Das war ja nicht mal Rock'n'Roll, das waren Showmätzchen einer Unterhaltungscombo für den Tanztee. Igitt. Und dann hatten sie auch noch die falschen E-Gitarren umgeschnallt. Auch wenn sie brillant darauf spielen konnten, das war nicht unser Sound. Das war ein spitzer, scharfer, kurzschwingender E-Gitarren-Sound aus der frühen Rock'n'Roll-Ära, ein für uns längst überholtes Klangbild wie aus der Mottenkiste. Wir waren Beat-Jünger, wir wollten einen Sound wie bei den Beatles: langschwingende, dröhnende, voluminöse Gitarrenklänge und keine Mätzchen mit Gitarrenhals-Ballett. Da nahmen wir auch ein geringeres Können auf dem Gitarrengriffbrett dafür in Kauf. Die Zukunft gehörte für uns nur den Beat-Bands. Und die Rock'n'Roll-Showbands - welcher Couleur auch immer - waren für uns allenfalls bestaunenswerte Museumsobjekte.

VR im WDR

Interview zur WDR-TV-Doku "Die Beatles kommen"

Interview mit Volker Rebell, 6. Mai 2012,

für WDR-TV-Doku „Die Beatles kommen", gesendet am 02.11.12 im WDR-Fernsehen.

Transkription des kompletten Interviews

Interviewerin Heike Nikolaus (WDR-Fernsehen)

1966, wenn Sie da mal dran zurückdenken, was haben Sie damals so gemacht? Was waren Sie so für ein junger Mann? Wie alt waren Sie? Was war damals wichtig in ihrem Leben?

Das war leider eine schwierige Zeit, weil ich von meinen Eltern aus der Schule abgemeldet worden war und in eine Lehre gesteckt wurde. Ich sollte der Nachfolger meines Vaters in einem kleinen elterlichen Betrieb werden, der ältere Bruder war ausgefallen. Und das kam für mich sehr überraschend und es war ein Schock für mich, plötzlich als Lehrling in einer mechanischen Werkstatt zu sein und mit Schwielen an den Händen, ich hatte zwar keine Künstler-, Pianistenfinger, aber es war halt ungewohnt für mich, jetzt plötzlich zu feilen, schruppen, schlichten, das war hart. Und dann kam die Erlösung sozusagen, bevor ich vielleicht depressiv geworden wäre oder was weiß ich, mit Drogen oder irgendwas in Kontakt gekommen wäre, war die Erlösung für mich die Musik der Beatles, wirklich wahr. `63/ `64 waren wir, eine Freundesgruppe, total begeistert, völlig entflammt. Und haben eine Band gegründet, was kein Musikunterricht hingekriegt hat. Wir haben freiwillig angefangen, Gitarre zu lernen, einfache Akkorde, haben die Beatlessongs abgehört, was singen die da, was machen die da. Und diese Beatlesband, eine Nachspielband, hat mich sozusagen gerettet und hat mich jedenfalls wohl fühlen lassen und ja, das war dann eine ganz wichtige tolle Zeit. Das hat natürlich auch, verklemmt wie man noch als Spätpubertierender war, geholfen, den Mädels etwas näher zu kommen. Weil, wenn man da als kleiner Beatbubi auf der Bühne stand und hat ganz nett gesungen und Gitarre gespielt, dann haben die Mädels schon mal geguckt. Und dann fiel es auch leichter, Kontakt aufzunehmen, und das war ja auch ein schöner Nebeneffekt. Aber die Begeisterung für die Beatlesmusik war immens und hat wirklich damals schon angefangen, mein Leben zu verändern.

Warum grade die Beatles? Was hat sie als junge Leute oder Sie als jungen Mann damals so angezogen? War da was Neues, oder was man sonst noch nie gehört hatte? Was war der Grund, warum grade diese Musik so bei Ihnen ankam?

Für mich war es neu und so was hatte ich noch nicht gehört. Die Rock`n Roll Ära war für mich zu früh, da war ich noch zu jung, das habe ich nicht mitbekommen, oder am Rande nur mitbekommen. Und als Ministrant, der ich war, katholisch erzogen, habe ich mit Kirchenmusik zu tun gehabt. Hab auch gesungen im Kirchenchor. Und die Beatles waren die Musiker, die die Mischung gebracht haben aus Rock`n Roll und schwarzer Musik auf der einen Seite, sie waren aber auch einer europäischen Kunstmusik verpflichtet. „Yesterday", was 1965 auf den Markt kam mit einem Streichquartett, hat uns alle völlig umgehauen, war sozusagen ein Rückgriff auf die europäische Musikkultur. Und bei den Beatles war immer so eine Mischung aus Härte und Forschheit, aber alle Zwischenteile waren immer mollreich, waren weich und sanft eingefärbt. Also die Mischung aus Rock`n Roll, abgemildert europäisiert und diese romantischen Liedformen im Mittelteil, das waren diese wunderbaren Kombinationen, wo wir Jungs uns sofort einklinken konnten.

Es war auch ein bisschen was Revolutionäres drin, das Rockige, das Aufmüpfige, aber es war sofort auch was Besänftigendes und etwas zutiefst Romantisches und Gefühlvolles drin gewesen und diese Mischung wars, die uns fasziniert und begeistert hat.

Wie war das denn damals, woher kannten Sie z.B. die Texte oder woher kannte man die Melodien? Wie hat man sich das angeeignet?

Tja, das war ganz schwierig. Denn es gab ja natürlich  nirgendwo abgedruckte Texte. Die erste Platte, bei der die Texte abgedruckt waren, überhaupt zum ersten Mal in der Popgeschichte, das war „Sgt. Pepper" 1967. Davor haben wir uns die Platten entweder gekauft oder besorgt, oder einer hat sie gekauft und dann wurden sie auf Tonbändern vervielfältigt. Und dann haben wir das abgehört, vor- und zurücklaufen lassen, und dann hieß es: „was singen die da?" Aber wir haben die Texte nicht immer verstanden. „Not a second time", nicht eine Sekunde Zeit, haben wir mit unserem bisschen Schulenglisch übersetzt. Dann hieß es: „was singen die da?" und so haben wir dann auch mit der Gitarre dagesessen und versucht, das rauszuhören, „ist das jetzt G- Dur oder was spielen die da für verrückte Akkorde, so ein ganz schräger, noch nie gehört, wie geht denn das, weißt du was?" und so. Da hat man sich im Freundeskreis dann umgehört und einer, der schon einen G7+- Akkord kannte, der war dann der King. Weil das dann genau wie auf der Platte klang. Und so haben wir tatsächlich über die Beatlessongs Musik gelernt. Und haben uns auch ein bisschen für Theorie interessiert, wir wollten es ja nachspielen, wir wollten ja relativ nah am Original sein. Also haben wir geübt und Kauderwelschtexte natürlich gesungen, manches haben wir einfach nicht verstanden, weil die Beatles nun auch nicht immer mit ihrem Liverpoolslang gut verständliches Englisch gesungen haben. Und dann haben wir halt irgendwas lautmalerisch erfunden. Als wir dann irgendwann später mal in einem Ami-Club gespielt haben, das war damals ein Hochamt, das war die Weihe, in einem Ami Club spielen zu dürfen. Dann haben sich die GI`s immer angegrinst „Oh my god, was singen die Typen da für ein Zeug, für ein furchtbares Kauderwelsch?" Uns war das schon ein bisschen peinlich,  aber alle haben es dann locker genommen. Und mit den Beatles war es wirklich so, dass jede Single etwas musikalisch neues hatte, etwas klanglich neues, oder es hatte textlich neue Ideen gebracht. Wir sind mit den Beatlessongs gewachsen und auch musikalisch entwickelt worden, kein Musikunterricht hat das geschafft, sondern die Beatles haben uns sozusagen musikalisch gebildet und entwickeln lassen.

Im Grunde genommen würde man das heute als pädagogisch wertvoll nennen, sozusagen.

Das kann man so sagen.

Aber wie fanden Ihre Eltern das denn? Haben die das genauso gesehen?

Also speziell meine Eltern haben gemerkt, dass der Junge, den sie ja aus der Schule raus genommen hatten und in die Lehre gesteckt haben, dass der aus seiner depressiven Phase raus kam und aufgeblüht war durch diese Musik, die er gemacht hat. Also haben sie es ein Stück weit unterstütz. Haben mir sogar eine ganz teure Fender Gitarre gekauft, aber das falsche Modell, das nicht den Beatles-Sound hatte, sondern den der Tielman Brothers. Es gab damals noch knapp vor den Beatles so eine indonesische Rock`n Roll Indo-Szene, und die spielten auf der Fender Jaguar, die klang ganz hart und schrill. Während die Beatles eher eine Fender Stratocaster oder Telecaster, damals noch nicht, aber später dann, verwendet haben. Also es war jedenfalls die falsche Gitarre, aber immerhin war es eine ganz tolle, teure Gitarre, die meine Eltern mir wirklich geschenkt hatten. Das heißt aber nicht, dass sie mich darüberhinaus unterstützt hätten. Weil sich jetzt auch bei mir etwas veränderte. Die Beatlesidentifikation führte eben auch dazu, dass man deren Habitus übernahm. Das heißt, die Haare wurden länger, was Probleme gemacht hat, die Nachbarn haben geguckt: „was ist denn mit dem da los?". In der Schule war es ganz schwierig. Man muss sich immer vergegenwärtigen, das Ende des Krieges, die Nazizeit lag erst 15, 16 Jahre zurück. Und schaut man sich die Fotos von Lehrern von damals an, die sahen alle aus wie Nazis, oder so wie nicht richtig gewendete Nazis. Und so waren sie dann auch, ich will jetzt nicht alle da pauschal verurteilen, aber es gab etliche Lehrer, die auf Leute wie mich und andere, die noch längere Haare hatten, ziemlich übel reagiert haben. Aber was hieß da längere Haare? Man hat grade mal so ein bisschen was über die Ohren gehabt und eben den Pilzkopf da vorn. Das war schon eine totale Provokation.

Ein Lehrer hat mich immer, grundsätzlich als „Fräulein" angesprochen und fand es witzig, dann noch „oh Entschuldigung" zu sagen, „ich habe dich ja von hinten verwechselt" - und das nur, weil ich ein bisschen längere Haare hatte. Und ein anderer Lehrer hat gerade die Mitschüler, die sich so ein bisschen beatleähnlich gegeben haben und auch leicht aufmüpfig aussahen, die hat er ziemlich rangekommen und auch fertig gemacht. Also es gab unschöne Szenen, und ich behaupte mal, das waren Nazis, die man als Lehrer halt auch weiter noch gebraucht hat. Nicht alle, aber es gab etliche davon. Und das ganze Klima war ja in dieser Zeit auch stockkonservativ, wenn man sich erinnert, der Wahlkampfslogan der CDU hieß „Nur keine Experimente". Das heißt dieser Muff, dieses konservative Klima, diese streng katholische Erziehung, oder dieses puritanisch- evangelische, auf jeden Fall total lustfeindliche, das alles kam plötzlich für uns ins Schleudern. Es wurde alles anders, weil da 4 Jungs waren, die haben Fröhlichkeit gelebt, die haben Jugendlichkeit ausgelebt. Und die hatten Erfolg. Das war eine Welle, die uns erfasst hat. Und wir waren in dieser Phase der Pubertät, wo man nicht so recht weiß, wo man hin will, wer man ist, unglaublich stark mit den Beatles identifiziert. Das waren unsere Idole. Da wollten wir hin, wir wollten auch das alles haben, was die Beatles uns vorgelebt haben. Und plötzlich hat man halt auch Kontakt zu Mädchen gehabt und hat sich schon so ein bisschen als Miniatur-Star gefühlt, auf der Bühne klimpernd die Beatles nachzuspielen. Und natürlich haben wir alles verfolgt, was die vier Jungs da machen und es war für uns eine ganz entscheidend wichtige Identifikation. Die Beatles als Idole zu haben, das hat uns durch die ganzen Turbulenzen der Pubertät hindurchgeholfen und hat uns in dieser schwierigen Phase des so langsam ins Erwachsenenleben hineinzuwachsen enorm unterstützt.

Sie sagen grade, Sie haben alles verfolgt was die Jungs gemacht haben. Haben Sie z.B. auch die Bravo gelesen? War das eine Zeitschrift, die für Sie wichtig war?

Nie, komischerweise. Bravo war damals schon bei vielen verpönt. Weil die Bravo hat doch immer Roy Blök, so haben wir den Herrn Black genannt, vor allem favorisiert. Oder Peter Alexander und Heintje, und natürlich gab es dann auch mal einen Beatles Starschnitt, aber das ging nicht, nee. Komischerweise haben wir auch nicht unbedingt diese totale blinde Fanverehrung an den Tag gelegt, dass wir jetzt große Fanstarschnitts haben wollten, unsere Freundinnen schon eher. (LACHEN) Aber wir Jungs waren dann doch ein bisschen cooler. Wir haben Musik gemacht, ihre Songs gespielt und haben Sie verehrt, das waren Götter für uns, aber jetzt nicht so, dass wir alles über sie in der  Bravo gelesen hätten, nee, das nicht.

War das eher so ein Mädchending? Sie haben grade gesagt, bei den Mädchen war das so mit Postern und so. Was das nicht komisch, man kommt zu seiner Freundin und dann hängen dann die Beatles an der Wand, also nicht nur als Musiker, sondern auch als angebetete Idole. Gab es so was?

Also wir waren ja auch Fans. Bei uns wäre es aber, bis auf einen aus unserer Gruppe, nie so weit gegangen, dass wir unser Jugendzimmer zugepflastert hätten mit Devotionalien der Beatles. Bei zwei Freundinnen von Jungs unserer Band weiß ich, die haben es gemacht. Und dann gab es natürlich auch schon mal irritierte Blicke, und etwas Erstaunen und auch schon mal eine Eifersuchtszene (LACHEN), aber gut, das hat man halt dann einfach hingenommen. Und wenn man selber eben den John in der Band gespielt hat, oder den Paul und die Freundin stand eben auf Paul, da hat man Glück gehabt, dass man jetzt der Paul-Ersatz war, denn an den ranzukommen das ging ja wohl nicht. Aber den kleinen Ersatz-Paul aus Offenbach, den konnte die Freundin schon mal knutschen.

Wer war denn Ihr Lieblings-Beatles oder ist es noch?

Anfänglich war es Paul McCartney. Weil John war mir, als brav erzogener katholischer Bub und Ministrant, etwas zu forsch und heftig, ich fand ihn zwar faszinierend, aber der Paul wirkte irgendwie netter und freundlicher. Und er hat ja mehr die romantischen und gefühlvollen Lieder gesungen. Und zu denen hatte ich damals als pubertierender Junge einen stärkeren emotionalen Bezug als zu diesen härteren Rock`n'Roll-Sachen. Die waren auch Klasse, aber ich habe mich gerne mehr zurückgezogen auf die gefühlvollen Lieder, und dafür stand der Paul. Sah natürlich auch hübsch aus, man konnte sich identifizieren, alle Mädchen-Herzen flogen ihm zu, so wollte man auch sein. Später bin ich dann ganz umgeschwenkt. Also es begann damit, dass ich in Essen bei diesem hysterischen und historischen Konzert in der Grugahalle meine Freundin beobachtet habe, wie sie sich anstecken ließ von den ganzen kreischenden Mädels um sie herum und dann eben auch "Paul, Paul, Paul" geschrieen hat. Und ich war etwas irritiert, den Namen Paul so schmachtend von ihr zu hören, das kannte ich noch nicht, und da war die Eifersucht sehr groß.

Und von dem Augenblick an habe ich gedacht, nee, also Paul dieses Weichei, dieser Mädchenschwarm, nee nee, der ist es nicht. Der Lennon, der ist der Intellektuelle, das ist der scharfzüngige, das ist der eigentliche Kopf der Beatles, mit dem bin ich jetzt identifiziert. Das heißt, anfänglich war es eben nur so eine emotionale Entscheidung. Und dann aber habe ich gemerkt, der Lennon ist doch in seiner Persönlichkeit noch interessanter, auch widersprüchlicher und merkwürdiger, aber doch insgesamt faszinierender. Also Lennon ist es bis heute für mich, mein großes Idol.

Jetzt sind wir schon fast beim Beatles-Konzert in Essen gelandet. Wie war das, als Sie erfahren haben, und wie haben Sie davon erfahren, dass die Beatles nach Essen kommen? War das gleich klar, dass Sie dahin fahren werden?

Ja, das war natürlich ein ganz großes Thema in der Jugend-Szene. Ich weiß nicht mehr, ob wir das über Plakate gesehen hätten, im Radio hatten wir wohl keine Ankündigung gehört, Popradio, das gab es ja zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht, so wie wir das heute kennen. Dass die Beatles kommen, das war natürlich sofort das Gesprächsthema in der Beatles-Szene, in der wir da verkehrt sind. Und das war ganz klar, da müssen wir hin, keine Frage. Und dann war halt noch zu überlegen, wo fährt man hin? München und  Hamburg, das war zu weit, also blieb nur Essen, das war am nächsten. Und ich glaub, es war auch ein Samstagkonzert, was für uns alle viel einfacher war als Schüler und Lehrlinge, sich da frei zu machen. Da sind wir also nach Essen gefahren, und das war egal, was es jetzt gekostet hätte, und 20 DM war viel Geld damals für uns gewesen, aber das musste sein. Einmal die Beatles live zu sehen, das konnte man sich nicht entgehen lassen.

Sind Sie da mit anderen zusammen hingefahren?  Ja.

Wie, mit der Bahn oder wie sind Sie da hin gekommen?

Nee. Also einer von uns hatte schon den Führerschein und hatte einen großen Opel Rekord. (LACHEN). Und er konnte gut fahren, die Eltern hatten ihm den geliehen für diesen Ausflug. Und da haben wir dann, glaube ich, zu neunt, in diesem Opel Rekord drin gesessen. Fast die komplette Band und die Freundinnen und noch ein bisschen Anhang. 9 Leute in einem Opel Rekord, und so sind wir eben nach Essen da getuckert. Aufgeregt waren wir alle, und total gespannt auf dieses Konzert. Aber erst musste man mehrere Vorgruppen sich antun, bis es endlich so weit war und Ringos Schlagzeug mit dem Beatles-Emblem auf die Bühne gestellt wurde. Und von da an war es aus mit der Ruhe, mit dem Aufstellen des Schlagzeug brach ein infernalischer Lärm los. Und so blieb es dann bis zum Schluss des Konzertes. Wobei die Beatles ja nie länger als eine halbe Stunde gespielt haben, das war trotzdem für uns wie eine kleine Ewigkeit, weil wir natürlich glücklich waren, obwohl wir nichts von Ihnen hören konnten wegen des Geschreis, aber sie da unten als kleine Punkte zu sehen, das war toll. Mit der Karte für 20 Mark saßen wir im Rang weit oben. Das heißt Operngläser hatten wir keine, an so was hätten wir auch nicht gedacht. Wir haben also nur kleine Punkte da unten gesehen, das waren die Beatles und wir haben halt sozusagen das Gefühl gehabt, wir teilen den Raum mit ihnen. Und das war es schon wert.

Wie war das denn, als Sie da ankamen mit Ihrem Opel Rekord, können Sie sich noch erinnern, war da viel Polizei, oder war da viel los vor der Grugahalle?

Es war viel los und es waren auch viele Eltern da. Was man viel später erst in großem Ausmaß bei den Backstreet Boys oder Take That erlebt hat, dass die Eltern ihre 12jährigen Kids hinbringen, das war auch damals schon ansatzweise so, dass einige Eltern dabei waren, aufpassen wollten und dann draußen blieben. Viele Polizisten waren auch da, aber daran kann ich mich jetzt nicht mehr so recht erinnern, aber an Trauben von Menschen, die eben davor standen und Einlass begehrten und sich auch schon unterhielten und Beatles Devotionalien tauschten. "Was hast du denn da?" Man hat dann neugierig geguckt, was es denn da gab an Beatleskappen, an Beatlesstickers und solchen Sachen. Aber das wichtigste war natürlich, reinzugehen, die Atmosphäre zu erleben und die 4 zu sehen und möglichst auch was von ihnen zu hören.

War die Halle bestuhlt?

Das war alles bestuhlt, ja. Aber irgendwann standen alle, da saß keiner mehr als es mit den Beatles los ging, im Grunde schon nach dem ersten Ton standen sie alle auf ihren Plastikstühlen drauf und haben geschrieen und gejohlt und man konnte da nicht mehr sitzen. Wenn man was sehen wollte, musste man aufstehen. Aber es war natürlich eine unglaubliche Atmosphäre. Es war das verrückteste und mich am meisten faszinierende Konzert meines Lebens. Ich habe als Musikjournalist viele Konzerte gesehen, aber klar, so wie man das erste Mal verliebt-sein nie vergisst, so war es dann auch halt mit diesem Beatles-Konzert. In der Halle war ein schrecklicher Sound, die Beatles konnten mit ihren kleinen Kofferverstärkern natürlich gegen diese brüllende Menschenmenge nicht ankommen. Die konnten sich mit diesen Miniverstärkern nie und nimmer akustisch alleine durchsetzen. Aber es war eben Euphorie, es war ein Fest und pures Feiern, vielleicht hat man sich auch schon selbst ein bisschen gefeiert, dieses jugendlich ungestüme, dieses Aufbruchsgefühl „wir sind unter uns, wir sind eine verschworene Gemeinschaft, und wir feiern jetzt mit denen, die das alles ausgelöst haben, und feiern auch so ein bisschen uns alle zusammen." So könnte man sagen.

Jetzt haben Sie gerade gesagt, dass es auch noch die Musikgruppen gab, die vorher aufgetreten sind. Da gab es ja auch die Rattles.  Ja.

Die kannten Sie doch sicherlich. Die waren ja nicht unbekannt zu dem Zeitpunkt.

Die waren überhaupt nicht unbekannt. Aber sie waren eher, Entschuldigung Achim Reichel, sie waren lästig. Wir wollten die Beatles sehen und nicht Achim Reichel und seine Rattles. Und wer war sonst noch im Vorprogramm, Peter and Gordon? Ich erinnere ich mich jetzt schon gar nicht mehr. Aber es gab tatsächlich 3, 4 Vorgruppen, okay die haben wir jetzt halt mitgenommen, aber wir waren begierig auf die Fab Four, wir waren doch nur wegen der Beatles gekommen, nicht wegen der Rattles.

Die Armen.

Ja, die Armen. Ich habe übrigens dann später mal mit dieser Beatles-Schülerband, die ich hatte, als Vorgruppe bei einem Konzert mit den Rattles auftreten dürfen. Und wir haben sogar die Garderoben mit ihnen geteilt. Und haben natürlich staunend geguckt, was die denn für tolle Klamotten anhatten, wie die dann souverän mit ihren Instrumenten umgegangen sind, schon alleine wie sie professionell ihre Gitarren gestimmt haben, wie sie cool da standen und wir dagegen völlig aufgeregt waren. Es war eine tolle Erfahrung mit den Rattles, aber Achim Reichel wird sich daran natürlich nicht erinnern. Aber später habe ich dann Interviews mit ihm geführt, ein toller Typ, Klasse Typ, ich stehe auf den, das gehört jetzt aber nicht hierher.

Wussten Sie welches Repertoire die Beatles spielen? Hatten Sie auf bestimmte Lieder gehofft?

Also kurz vor dem Konzert kam "Paperback Writer" mit der Rückseite "Rain" heraus, was so der Einstieg war in die psychedelische Ära der Beatles. Was wir damals alles noch nicht wussten, das weiß ich jetzt halt. Diese Single hat uns damals wirklich musikalisch überfordert, wir konnten den Song nicht nachspielen. Und wir waren natürlich gespannt, ob sie „Paperback Writer" live spielen würden, weil dieser verschachtelte Chor am Anfang, wie sollten die das live machen? Da war doch ein Hall und Echo hinten dran, das lässt sich doch technisch gar nicht auf der Bühne so wie im Studio realisieren. Aber, sie haben es gespielt, und sie haben es gut gespielt. Jedenfalls, soweit man davon etwas hören konnte. Es war andeutungsweise zu hören, dass sie es tatsächlich ähnlich wie auf der Platte singen und spielen. Sie waren ja drei fantastische Sänger und deshalb konnten sie diese Chorstimmen, die sie im Studio natürlich Playback gedoppelt hatten, auch live singen. Wir haben natürlich gehofft auf die großen Hits, die sie zum Teil auch gespielt haben, nicht alle, die wir geliebt haben. Aber wir kannten nicht vorher ihr Repertoire, das wussten wir nicht, was sie live spielen. Aber wir hatten natürlich alle Singles im Kopf und hätten im Grunde die meisten Songs mitspielen können, denn die haben wir selber als kleine, nachspielende Band auf der Bühne „gecovert", würde man heute sagen, also wir kannten die alle auswendig. Und waren natürlich glücklich und haben gestrahlt, wenn wir dann auch lippensynchron die Texte sozusagen mitbeten konnten. Aber wie gesagt, es gehörte schon etwas Phantasie dazu, die Songs zu erkennen unter all dem Riesenlärm.

Welche Songs waren denn damals angesagt, also was waren ihre größten Hits oder welche Songs waren damals besonders beliebt von den Beatles?

Also natürlich die ersten Riesenknaller, die uns ja umgehauen hatten. „She Loves You yeah yeah", „I Wanna Hold Your Hand" oder „A Hard Day`s Night" - unglaubliche Supersongs. Später waren das „I Feel Fine" und ab 1965 dann die Singles „Eight Day's A Week", „Ticket To Ride" und „Help". Ganz toll fanden wir im Grunde auch alle Songs, die in dem wunderbaren, ersten Film „A Hard Day's Night" zu hören und zu sehen waren, der uns total begeistert hat. Dieser Film war so was von fröhlich, war fantasievoll, war witzig und mitreißend. Diesen Film haben wir alle extrem geliebt. Und speziell Songs wie „If I Fell" hab ich geliebt, das war natürlich auch eine wunderschöne Ballade, die Paul und John zusammen zweistimmig gesungen haben, für mich ein Kunstlied, das an die Romantik von Schuhmann oder Schubert erinnern könnte. Also, die Balladen haben wir alle besonders gemocht, aber natürlich auch die Rocker, wobei die Beatles haben ja den Rock`n Roll sofort überführt in ihr eigenes Universum. „A Hard Day`s Night" hätte ein Elvis Presley und Chuck Berry so nie gesungen oder geschrieben, das war schon ihre eigene, neue Mixtur, die uns unglaublich fasziniert hat, weil, so was gab es noch nicht. Es gab natürlich die ganzen Liverpool Bands, die anderen kannten wir auch, Gerry and the Pacemakers, The Searchers, von denen wir auch "Sweets For My Sweet" nachgespielt haben. Aber die Heiligen, die Säulenheiligen waren die Beatles. Und deren Songs waren natürlich auch, wenn man es vergleicht, qualitativ deutlich besser. Und auch wir, die wir noch keine musikalische Erziehung oder Erfahrung hatten, haben sofort gehört, das ist etwas anderes, das ist musikalisch auf einem anderen Niveau. Und wie gesagt, diese Entwicklung von einer zur nächsten Single, dass immer etwas Neues dazukam, immer an Ideen und Komplexität zunehmend, das hat es bei den anderen Bands so nicht gegeben. Die haben ihren Stil einmal gemacht und sich selbst nur noch wiederholt. Die Beatles haben sich aber überhaupt nicht wiederholt, jeder Song hatte eine eigene neue Qualität. Und das war für uns eine Offenbarung.

Jetzt noch mal kurz die Stimmung in der Halle.  Ja.

Sie haben erzählt Ihre Freundin fing dann auch irgendwann an zu kreischen.

(LACHEN.) Ja.

Wahrscheinlich haben Sie ja mehr auf die Beatles geachtet. Aber gab es das wirklich, dass da welche so ausgeflippt sind oder in Ohnmacht gefallen sind, oder so?

Das haben wir gesehen, also einige Sanitäter waren ordentlich beschäftigt, vor allem mit Mädels, die ziemlich weit nach unten gedrängt sind. Es war, muss man erstmal sagen, im Grunde sehr diszipliniert alles gewesen. Nix Randale oder so, jedenfalls nicht innerhalb der Grugahalle. Das war doch für uns wie ein Gottesdienst, wenn auch ein ziemlich ausgeflippter. Aber es gab natürlich einige Fans, die ganz nach vorn gehen wollten, und dann war es natürlich dicht um die Bühne rum eng und gedrängt und dann haben wir schon gesehen, wie plötzlich rumms, ein Mädel umgekippt ist (LACHEN) und in Ohnmacht fiel. Und immer dann, wenn die Beatles brav ihren Diener gemacht haben, sich nach jedem Song verbeugt haben, hat dann das eine Mädel gesagt „ach wie süß", das andere hat nichts mehr gesagt, hat nur nach Luft gerungen und zack, weg war sie. Und die wurden dann halt von den Sanitätern raus getragen und dann irgendwie verarztet, dass sie wieder zu sich kommen, wach werden, wahrscheinlich so mit Riechsalz unter die Nase. Es waren nicht viele, aber es waren einige ohnmächtig geworden. Natürlich haben alle extrem geschrieen. Auch bei jedem Gag, den John Lennon gemacht hat. Der dann auf die Knie fiel vor seinem Publikum, sie so anhimmelte und dann folgte sofort Geschrei. Obwohl John sie doch eigentlich verarscht hat, das war ja absolute Ironie gewesen. Aber alle haben geschrieen und gejubelt. Oder wenn er, was er damals komischerweise gerne gemacht hat, so aufforderte "stamp your feet and clap your hands", das machte er aber immer so gemein linkisch wie Debile oder wie Spastiker. Also, da hat er irgendeinen komischen Spaß dran gehabt, das war auch irgendwie eklig schon fast. Jedenfalls eine Verarschung des Publikums. Aber alle haben geschrieen, wenn er solche Gags gemacht hat. Und die Atmosphäre war insgesamt friedlich, aber sehr aufgeladen emotional. Und einige haben es halt dann kreislaufmäßig nicht geschafft, es durchzustehen.

Die Beatles haben ja eigentlich nur 30 Minuten gespielt. Wie war das als das Konzert zu Ende ging? Können Sie sich noch daran erinnern, wie das letzte Lied vorüber war, was kam dann?

Das war natürlich großer, großer Frust, es ging letztlich doch viel zu schnell. Und wir wollten mehr haben und die Stimmung noch weiter genießen. Diese Ausnahmesituation, die hat man nicht in der Kirche gehabt, nicht im Jugendclub, im Elternhaus sowieso nicht, sondern hier war etwas zelebriert worden, was ganz besonderes. Eine Riesenmenge von jungen Leuten, die alle extrem emotionalisiert waren. Das war ein unglaubliches Erlebnis. Und das war dann schade, dass es so abrupt zu Ende war, es gab auch keine Zugabe. Die haben sich verabschiedet und weg waren sie, und wir haben dann hinterhergeguckt und haben dann auch „Zugabe" gebrüllt, aber es gab nichts mehr. Und dann musste man relativ schnell frustriert wieder ins alte Leben nach Hause zurück fahren. Wir als Schüler und Lehrlinge mussten natürlich auch brav wieder pünktlich zu Hause sein. Wir hatten uns Karten für die Nachmittagsvorstellung besorgt, damit wir spät abends wieder zurück wären. Es gab ja 2 Auftritte an dem Tag. Und wir konnten uns dann auch nicht lange irgendwie aufhalten. Draußen standen immer noch viele Gruppen zusammen und redeten und freuten sich, aber wir mussten ja auch das Auto vom Papa wieder zurückgeben. Das heißt, wir mussten schnell zurückfahren. Die Beatles, der Auftritt war natürlich das Thema während der Nachhausefahrt, was der oder jener beobachtet hat, und was ihm oder ihr besonders gefiel. Auch Tage später war es immer noch das Thema, das Thema überhaupt. Wir haben die Beatles gesehen, zwar nicht so richtig gehört, aber wir haben tatsächlich den Raum mit ihnen geteilt.

Dann sind Sie ja in der Achtung ihrer Freunde bestimmt ziemlich gestiegen, oder?

Schon, aber naja, das hielt sich in Grenzen. Aber heute ist es fast noch wichtiger, sagen zu können: „ich war dabei." (LACHEN) Weil, es gibt nicht mehr so viele, nicht dass sie alle weggestorben sind, aber die Beatles sind auch heute noch ein Thema. Und wenn man sagen kann „also ich habe sie live erlebt", das ist schon eine besondere Auszeichnung, im Sinne, „wenn er dabei war, dann kann er auch authentisch was darüber erzählen".. Damals war es zwar auch schon so, aber es war ja noch keine Riesen-Massenkultur. Längst nicht alle Jugendliche waren davon erfasst. Es gab ja immer noch die Heinofans, und die Peter Alexander Fans und Roy Black Fans. Das heißt also, die Beatles Euphorie war im größten Teil der Jugendkultur extrem. Aber es gab natürlich auch noch eine sehr konservative Jugendschicht die eben eher Roy Blök und Schlager gehört hat und nichts anderes. Und für diese Schlagerfans waren die Beatles eher etwas irritierend, zwar nicht so gefährlich wie die Rolling Stones oder die Animals oder Pretty Things, was ja ganz verlotterte Typen waren, aber auch die Beatles waren schon so ein bisschen aufmüpfig: „ui, da passiert was seltsames, da muss man aufpassen". Und die Eltern hatten sowieso alle Angst. Das war ja damals noch allgemein als "Negermusik" beschimpft worden, und da kamen Sprüche wie „hör doch lieber was Gepflegtes von Gerhard Wendland oder schöne Klaviermusik oder so was, aber doch nicht so einen Dreck da, also nee, mit so etwas darf man sich nicht beschäftigen."  So eine Position haben auch die Musiklehrer zu der Zeit wirklich noch vertreten. Das muss man wirklich laut sagen, denn auch das war der Punkt, warum wir mit Musikunterricht nichts anfangen konnten. Der Musikunterricht waren die Beatles für uns.

In dem Opel Rekord gab es da schon ein Autoradio?

Nee, das mag sein, dass es damals 1966 schon Autoradios gab, mit Sicherheit sogar, aber das war ein ganz schlichter Opel, ohne Schnick Schnack, ohne irgendetwas. Nee, wir haben aber selber gesungen. Und wir haben die ganze Zeit auf dem Weg nach Essen, und dann die Zeit wieder zurück haben wir gesungen und wurden dabei sogar rhythmisch unterstützt. Es gab ja damals noch diese Hitler-Autobahnen, das heißt alle paar Meter gab es so eine Querrille und das Überfahren der Rillen gab den Rhythmus. Tack de Tack.... und auf diesen Rhythmus haben wir dann gesungen, und das war eine schöne Unterstützung. Und daran erinnere ich mich auch noch gerne, an die Hinfahrt und die Rückfahrt, wo wir alle im Auto Beatles geplärrt haben, ja, das war sehr schön.

Sie haben gerade gesagt, dass die Erwachsenen oder einige Erwachsene, das alles schon in gewisser Weise bedrohlich fanden. Da gab es ja aber auch so bestimmte Kleidung, die von den jungen Leuten getragen wurde. Ich weiß jetzt nicht, ob Sie das auch getragen haben. Aber, es ging ja nicht nur um die Musik, sondern auch wie man aussah.  Klar.

Hatten Sie auch so irgendwie ein Beatles-Outfit?

Also, die Beatles haben natürlich auch die Mode extrem stark beeinflusst. Und für uns wohlerzogene Jungs war natürlich auch deren Anblick in schönen Anzügen und Krawatten angenehm, und für unsere Eltern auch. Die hatten zwar lange Haare, „oh, das sieht ja furchtbar aus, die sollten alle mal schleunigst zum Friseur gehen", aber ansonsten waren sie adrett. Die Stones ganz anders, die waren wirklich aufs extreme Gegenteil gebürstet, auf Kontrast und leicht vergammelt, nicht schmutzig, aber jedenfalls schon revolutionär für damalige Verhältnisse. Und natürlich haben wir auch das an Beatles-Klamotten, was es so gab, z.B. solche Beatles-Stehkragenhemden, die haben wir uns natürlich auch zugelegt. An Beatlesboots war schwer ranzukommen damals. Aber natürlich haben wir versucht, uns schon auch optisch abzusetzen von den anderen. Und dazu gehörte aber vor allem die Frisur, die hatte schon so eine optische Signalwirkung.

Die Beatles waren nicht nur als Musiker Vorreiter. Sondern sie haben auch in ihrem ganzen Outfit und ihrer Präsentation diese ganze Popkultur der damaligen Zeit geprägt. Für uns war hochgradig interessant, dass plötzlich irgendwann unsere Eltern so ein bisschen auf jung machten, oder dass die älteren Schwestern plötzlich Miniröcke anzogen. Und die älteren Brüder und überhaupt die jüngeren Männer schwenkten um auf unseren Klamottenstil.

Dass sogar manche Mütter plötzlich auch Miniröcke angezogen haben, das war hochgradig verblüffend, dass also sogar in der Elterngeneration die Popkultur, die die Beatles mit initiiert hatten, kopiert wurde. Wir mochten das eigentlich gar nicht, das war doch unser Ding und sollte ja  uns alleine gehören. Wir mochten überhaupt nicht, dass jetzt die Älteren oder sogar unsere Eltern anfingen mit Miniröckchen oder sich mal Jeans anzuziehen oder irgendsowas. Wir wollten uns doch abgrenzen, wir wollten für uns sein, wie das jede Generation braucht, wie das heute jede Generation macht, sich abzugrenzen von dem, was davor war. Das heißt, die Beatles und Mode, Beatles und Lifestyle, Beatles und Zeitgeist, das waren auch ein ganz wichtige Themen.

Dieses Beatles-Konzert, was bedeutet das sozusagen für Ihr Leben?

Das Konzert war der euphorisierte Höhepunkt, aber die Begeisterung für die Musik hatte ja schon 2 Jahre vorher begonnen. Und all das zusammen hat wirklich mein Leben stark beeinflusst, wenn nicht sogar verändert. Ohne die Beatles wäre ich nicht Musiker geworden, ich hätte nicht das Gitarre spielen gelernt und versucht, die Songs und die Texte zu lernen und mich stimmlich zu entwickeln und John Lennon zu kopieren, also einen bestimmten Duktus zu lernen. Nicht mehr Wanderlieder zu singen, sondern jetzt in dem Stil wie die Beatles gesungen haben, das so lange zu kopieren bis ich einigermaßen den Tonfall drauf hatte. Ich wurde Musiker durch die Beatles. Ich kam in die Musikszene durch die Beatles, ich kam in Kontakt mit Musikredakteuren des hessischen Rundfunks, wegen der Beatles. Ich habe meine erste Radiosendung im Hessischen Rundfunk 1970 zwar nicht zum Thema Beatles gemacht, aber zum Thema Progressive und Art Rock, den die Beatles angeschoben hatten. Und letztlich kam ich ins Radio und wurde Musikjournalist, weil ich mit dieser Beatlessache groß geworden bin. Weil ich da infiziert wurde. Und jetzt vor ein paar Jahren habe ich ein Beatlesbuch geschrieben, bastle im Augenblick grade an Hörbüchern, eines über John Lennon, eines über Paul McCartney. Also, ich bin jetzt schon im fortgeschrittenen Alter, aber die Beatles sind nach wie vor ein Teil meines Lebens. Und ein wichtiger Teil und ein schöner Teil meines Lebens und ich wäre um etliches ärmer, wenn es die Beatles nicht gegeben hätte.

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Hundertwasser "Einführende Worte" zur Vernissage der Hundertwasser-Ausstellung in Wetzlar am 24.11.11:

„Natur ist schön, Kunst ist schön. Beides gehört zusammen" - dieses Zitat von Friedensreich Hundertwasser sagt im Grunde schon alles. Eigentlich könnte ich Ihnen jetzt noch einen schönen Abend wünschen und darauf hinweisen, dass die Bilder für sich sprechen und genau dies vermitteln: „Natur ist schön, Kunst ist schön. Beides gehört zusammen." Aber, das wäre dann doch etwas zu kurz gegriffen, zu oberflächlich betrachtet und würde dem Künstler Hundertwasser und seinen vielschichtigen Gemälden nicht gerecht werden - auch nicht seinem Begriff von Schönheit. Was für die meisten von uns der Inbegriff von schönem Wetter ist: ein sonnendurchfluteter strahlendblauer Himmel, das galt für Hundertwasser nicht. Für ihn war ein Regentag sehr viel schöner als ein sonniger. „Jeder Regentropfen ist ein Kuss vom Himmel", lautet ein bekanntes Zitat von ihm.

Im Film „Hundertwasser Regentag" von Peter Schamoni aus dem Jahre 1972 sieht man Hundertwasser mit einem geöffneten Regenschirm im Nieselregen spazieren gehen. Und dazu hört man seine Stimme dies sagen:

„An einem Regentag beginnen die Farben zu leuchten. Wo die Sonne auftaucht, da gibt es nur noch Licht und Schatten, schwarz und weiß. So schön die Farben bei Regen sind, sobald die Sonne scheint, verschwinden die Farben, es gibt dann nur noch Kontraste. Ein trüber Tag, ein Regentag ist für mich der schönste Tag. Das ist ein Tag an dem ich arbeiten kann. Wenn es regnet, bin ich glücklich. Wenn es regnet, weiß ich, dass mein Tag beginnt." In seinen letzten Lebensjahren nannte er sich bezeichnenderweise Friedensreich Regentag Dunkelbunt Hundertwasser.

Wie könnte es auch anders sein. Hundertwasser liebt Wasser: Regentropfen, Tränen, Wasser im Meer, in den Flüssen, in den Seen, Wasser, das vom Himmel fällt, Wasser, das aus den Augen fließt.

Das Wasser hat ihn immer magisch angezogen. Im Wasser findet er eine Zuflucht, einen Fluchtweg, der ihm offen bleibt, wie er es selbst formuliert hat. Deshalb ließ er sich Ende der sechziger Jahre auf einer Werft in Sizilien ein altes Schifferboot, ein Holzschiff nach seinen Vorstellungen umbauen. Er nannte das Schiff „Regentag" und umsegelte damit den halben Globus. Mehrere Jahre lebte und malte er auf seinem Schiff. 1975 überquerte er den Atlantik, segelte durch das Karibische Meer und den Panamakanal bis in den Pazifik. Im folgenden Jahr segelte er mit der „Regentag" von Tahiti über Rarotonga nach Neuseeland - was später dann auch seine Wahlheimat werden sollte.

In seiner Malerei spiegelt sich seine Liebe zum Wasser und zum Meer auf verschiedene Weise. Neben den Motiven Welle und Boot finden sich in seinen Bildern immer wieder Tropfen: Wassertropfen, Regentropfen, Tränen. Merkwürdig auch, dass er auf hoher See starb, an Bord der Queen Elizabeth 2, auf der Reise von Neuseeland nach Europa. Mitten auf dem Pazifischen Ozean war er am 19. Februar 2000 im Alter von 72 Jahren an Herzversagen gestorben.

Auf seinen Bootsreisen mit dem Schiff „Regentag" begleiteten ihn immer - wie er selbst sagte - ein kleiner schwarzer Hund und eine kleine schwarze Katze und außerdem wünschte er sich dazu noch einen schwarzen Raben. Warum schwarz, wurde er gefragt; „weil schwarz die schönste Farbe ist," sagte er wörtlich. Er, der doch gerade berühmt wurde wegen der Farbenpracht seiner Bilder, sagt, schwarz sei die schönste Farbe. Da würden ihm die Gruftis und Gothic-Fans sicher zustimmen, auch die Existenzialisten mit ihren schwarzen Rollis; aber wir „Normalos", die seine farbige Kunst schätzen und bewundern, sind doch eher verwundert, wenn wir den Meister sagen hören, schwarz sei die schönste Farbe. Die Farbe der Trauer, der Beerdigungsanzeigen, des Todes, das sei die schönste Farbe? Aber hat er nicht den Satz geprägt: „Zum Lebendigsein gehören Farben!" Und auch dieser Satz stammt von ihm: „Buntheit, Abwechslung und Vielfalt sind sicherlich besser als das Grau, das Durchschnittsgrau." OK, Grau, auch das triste Durchschnittsgrau ist nicht Schwarz, aber doch vielleicht eine Vorstufe davon?

Als farbenfroh, farbkräftig wird seine Malerei üblicherweise charakterisiert. Und natürlich spielen Farben in seiner Malerei durchgängig eine große Rolle. Aber, wenn man genau hinschaut, sieht man auch sehr viel Schwarz. Schwarze Linien, schwarze Motiv-Umrandungen, schwarze Flächen. Und ist da nicht neben der farbigen Leuchtkraft und Fröhlichkeit auch Melancholie und Traurigkeit? Die Gesichter, die er in etliche seiner Bilder hineingemalt hat, schauen in der Regel ernst, jedenfalls lächeln sie nicht. Und doch reagieren die meisten Betrachter auf ein Bild von Hundertwasser mit einem versonnenen Lächeln. Woran liegt's? Natürlich wirken die meisten Bilder durch die kraftvollen Farben sehr lebendig, wodurch beim Betrachter unwillkürlich eine positive Reaktion ausgelöst wird, je nach Temperament reicht das von einem kleinen Wohlgefühl bis zu großer Freude. Durch die Verwendung von Gold und Silber wirken manche der Bilder geradezu märchenhaft verzaubernd - und genauso verzaubert fühlt sich dann auch ein Betrachter, der sich noch seine Kinderseele bewahren konnte. Die Formen, Farben und Motive seiner Bilder sind kreativ-verspielt, fast kindlich naiv oder traumverloren mit Zwiebeltürmen, Klecksen. Kreisen, Kringeln, Spiralen, Augen, Hüten, schiefen Häusern, wackligen Linien und überall Rundungen, nirgendwo gerade Linien. Das Lineal war dem Künstler Hundertwasser ein Graus. Er verstieg sich gar zu Aussagen wie: „Das Lineal ist das Symbol des neuen Analphabetentums. Das Lineal ist das Symptom der neuen Krankheit des Zerfalls. Die gerade Linie ist gottlos und unmoralisch". - „Wir leben in einem Chaos der geraden Linie." - „Die gerade Linie führt zum Untergang der Menschheit." - dies alles sagte er wörtlich. Er vertrat die These: Die gerade Linie komme in der Natur nicht vor und sie mache krank, wenn ein Mensch ständig ihrem optischen Reiz ausgesetzt sei.

Sein Gegenentwurf war die lebendig und natürlich gekrümmte Linie und die Spirale. Kein anderes Symbol taucht so häufig in seiner Malerei auf. Die Spirale symbolisiert für ihn den Beginn des Lebens. Und steht gleichzeitig auch für den Übergang zum Tod. Die Spirale weist hinaus ins Universum als kosmischer Nebel, als Galaxie. Dort, wo die tote Materie in etwas Lebendiges übergeht, dort beginnt für ihn die Spirale. Seine Spirale sei aber keine geometrische, sondern eine biologische, sagte er, sie habe nichts mit einem Zirkel zu tun, sondern lebe von Ausbuchtungen, werde mal dünner, mal dicker, fließe um Widerstände herum, die sich ihr in den Weg stellen.

Er selbst sagte: „Die Spirale ist nie vollkommen oder vollendet. Die Spirale lässt sich nach innen gewendet und nach außen führend lesen: ... nach innen gewendet gleicht sie dem Schneckenhaus, in das sich der Künstler gern verkriechen möchte, nach außen führend steht sie für die Verbindung zur Außenwelt."

Mit der Spirale greift er bewusst ein archaisches und magisches Symbol auf.

„In allen bildlichen Überlieferungen alter Zivilisationen rund um den Planeten trifft man auf das Motiv der Spirale. Man findet es in Felszeichnungen amerikanischer Ureinwohner, im Keramikhandwerk aus dem alten Rom, in Bildern der australischen Aborigines, indischen Mandalas, keltischen Symbolen und islamischer Ornamentik." Die Spirale als ein universelles Symbol tauchte in allen Kulturen auf, vom Schmuck und den Tatoos der polynesischen Maori's, über Motive bei den Inkas, bis hin zu Zeugnissen aus der Mittelsteinzeit. 

Auch ein weiteres, in seiner Malerei oft zu findendes Symbol, das Auge, geht zurück auf früheste Darstellungen in der Menschheitsgeschichte. Aber er malt kein singuläres, kein göttliches Auge der Vorsehung. Hundertwasser malt Mandelaugen - und - immer als Augenpaar. Den Betrachter schauen diese Augen sinnend an, wissend und scheinbar beobachtend. Wenn Augen die Fenster zur Seele sind, dann gleichen die Augen in den Bildern von Hundertwasser neutralen Öffnungen, die einen Blick in die Innenwelt ermöglichen, die Innenwelt des Bildes wie des Betrachters.

Als weiteres Charakteristikum in Hundertwassers Bildern fallen die vielen Fenster auf. Sie stellen für ihn die Verbindung zur Außenwelt dar. Fenster sind die Augen der Häuser. Keines seiner Fenster und fensterähnlichen Rechtecke ist mit dem rechten Winkel gezeichnet. Als Kind des zweiten Weltkriegs assoziierte er mit dem Rechteck die Bedrohung durch Militärkolonnen, die im Karree aufmarschierten. Die Nazi-Bataillone sind für ihn - Zitat - in „geometrische Rechtecke gepresstes" Unheil. Seine immer leicht schief geratenen Rechtecke sind individuell gestaltete Seh-Fenster, als Öffnung für den freien Blick hinaus in die Welt.

Seine Ablehnung gegenüber der „Geometrisierung des Menschen" zeigt sich überdeutlich auch in seiner Architektur. Keines seiner Fenster gleicht dem anderen. Keines seiner Häuser und Bauwerke, die er entwarf, hat etwas mit herkömmlicher Architektur zu tun. Überspitzt gesagt, wirken Hundertwassers Häuser neben den üblichen Mietskasernen und Wohnsilos wie exotische Märchenschlösser aus tausendundeinem Traum. Wie schon seine Malerei strahlt auch seine Architektur Lebendigkeit, Fantasie und Farbenfreude aus. Man sieht Zwiebeltürmchen, goldene Kuppeln, farbige Säulen, übergrünte Dächer und baumbestandene Terrassen. Die schiefen Fassaden sind übersät von bunt eingefassten Fenstern der unterschiedlichsten Größe und Form. Diese lebendige, den Menschen zugewandte Architektur, die den Bedürfnissen nach Schönheit und Fantasie nachkommt, strotzt geradezu vor ästhetischen Reizen, malerischem Reichtum und einer Ideenvielfalt, die sich jeder Normierung entzieht und widersetzt. Alleine bei der Gestaltung der Säulen bewies Hundertwasser eine schier unerschöpfliche Fantasie. Er schuf Säulen, die prachtvoll ausschauen und wundersam anmuten - mal wie ein ausgeflippter Totempfahl, mal wie der kultische Schmuckbaum einer Hippiekommune oder wie die Siegessäule eines Märchenprinzen aus Fantasien. Mit satten Farben bunt bemalt, gleichen die Hundertwasser-Säulen Skulpturen der Lebensfreude. Oft sind die Säulen unterteilt in bauchige Wülste, schlanke Ständer, gedrungene Sockel, satte Ringe, mal schmal und zierlich übereinander geschichtet, mal ausufernd fett wie Hüftgold, dazu gibt es verspielte Kapitelle und womöglich noch eine güldene Kugel obendrauf - dies alles verziert mit farbiger Keramik, mit Mosaiken aus Bruchstücken von Fliesen und Kacheln, versetzt mit silbrig glitzerndem Metall und glänzendem Perlmutt.

Ecken, scharfe Kanten und gerade Linien sind in seinen Bauwerken nicht zu finden - auch keinerlei Vereinheitlichung der Formen, keine Anpassung an irgendein Farben-Dogma - und erst recht gibt es keine ständige Wiederholung von normierten Elementen wie Fenstergrößen, Balkonen etc..

Er attackierte schon früh die herkömmliche Einheits-Architektur und polemisierte, es sei an der Zeit, - Zitat - „dass die Leute selbst dagegen revoltieren, dass man sie in Schachtelkonstruktionen setzt, so wie die Hendeln und die Hasen in Käfigkonstruktionen, die ihnen wesensfremd sind." Seine Thesen waren radikal und manchmal auch überzogen. Zitat:

„Die Repetition immer gleicher Fenster nebeneinander und übereinander wie im Rastersystem ist ein Merkmal der Konzentrationslager. In den neuen Gebäuden der Satellitenstädte und in den neuen Verwaltungsgebäuden, Banken, Spitälern, Schulen etc. ist die Nivellierung der Fenster unerträglich. Das Individuum, der einzelne, immer andersgeartete Mensch wehrt sich gegen diese gleichmachenwollende Diktatur passiv und aktiv je nach Konstitution: mit Alkohol und Drogensucht, Stadtflucht, Putzwahn, Fernsehabhängigkeit, unerklärlichen körperlichen Beschwerden, Allergien, Depressionen bis zum Selbstmord oder aber mit Aggression, Vandalismus und Verbrechen." In seinem sogenannten „Verschimmelungs-Manifest" von 1958, in dem er ernsthaft den Schimmel in Wohnungen als Rückkehr der Natur in eine sterile und lebensfeindliche Umgebung pries und in dem er die Benutzung des Lineals in der Architektur als „verbrecherisch" anprangerte, verstieg er sich zu extremen Positionen. Zitat:

„Man soll den Baugelüsten des einzelnen keine Hemmungen auferlegen! Jeder soll bauen können und bauen müssen und so die wirkliche Verantwortung tragen für die vier Wände, in denen er wohnt. Und man muss das Risiko mit in Kauf nehmen, dass so ein tolles Gebilde nachher zusammenfällt, und man soll und darf sich vor Menschenopfern nicht scheuen, die diese neue Bauweise erfordert." Haben wir da richtig gehört und gelesen? Hat der Gutmensch, Natur- und Menschenfreund Hundertwasser tatsächlich geschrieben, man dürfe und solle sich vor Menschenopfern nicht scheuen? Das hat er tatsächlich.

Kann man das als Ausdruck seiner Sturm- und Drangzeit, oder als „Jugendsünde" relativieren? Als er sein „Verschimmelungs-Manifest" gegen den Rationalismus in der Architektur schrieb, war er immerhin schon 30 Jahre alt. Wie ist die Rigorosität mancher seiner Ansichten und Proklamationen zu verstehen? Er war 10 Jahre alt, als die deutschen Wehrmachtssoldaten in Österreich einmarschierten und Nazi-Deutschland das Alpenland „Heim ins Reich" holte. Seine Mutter war Jüdin und konnte den Holocaust nur überleben, weil ihr Mann Arier war. Die Familie der Mutter wurde von den Nazis komplett ausgelöscht. Er war 11 Jahre alt, als der zweite Weltkrieg ausbrach.  In der Malerei und Architektur des erwachsenen Hundertwasser taucht als Gestaltungselement das Bild vom Maulwurf und vom Maulwurfshügel auf. Er selbst sagte dazu: „Ich wäre gerne ein Maulwurf (...) würde gern unter der Erde leben (...) wenn wieder Panzer anrollen, wäre ich geschützt in meiner Höhle." Später entwarf er Häuser, die sich wie Maulwurfshügel aus der Erde herauswölben. Nach all dem, was er als Kind erlebt hatte, wird nur zu verständlich, dass der Mensch Hundertwasser Schutz brauchte und Zuflucht. Die Natur und seine Kunst konnten ihm dies geben, die Menschen offenbar nicht.

Seine frühen Kinderängste vor den im zackigen Rechteck aufmarschierenden Militär-Batallionen, vor den im Gleichschritt einrückenden SS-Kolonnen, vor den Panzern, diesen rechteckigen, kastenförmigen Todesmaschinen mit einem Kanonenrohr, das wie mit dem Lineal gezogen aus der Maschine herausragt und seine todbringende Ladung auf das Ziel abfeuert, seine Ängste vor den uniformierten Nazis, die seine Mutter drangsalierten und deren Familie ermordeten, dies alles musste sein Menschenbild beeinflussen und musste Spuren in seiner Kunst hinterlassen, etwa in der Ablehnung der Uniformität, der zackigen Rechtwinkligkeit und der geraden Linie.

Und die latente Melancholie, die Traurigkeit der Tränen in seinen Bildern hat sicher mit dem Schicksal seiner Familie zu tun. Wie könnte eine Kinderseele unter solchen Erlebnissen nicht gelitten haben. Und wie könnten die Regentropfen nicht nur tröstende Küsse, sondern auch Tränen des Himmels sein.

„On and on the rain will fall like tears from a star, on and on the rain will say, how fragile we are", hat Sting gesungen.

Die Radikalität mancher der frühen, so gar nicht friedensreichen Texte von Hundertwasser erklärt sich natürlich auch aus der Zeit und dem aufbegehrenden Zeitgeist in den sechziger Jahren, aus der Rebellion gegen die verkrustete Gesellschaft, in der die Altnazis in der Schule, Universität, Politik und Justiz immer noch das Sagen hatten.

Knapp 40 war Hundertwasser, als er 1967 seine berühmte Nacktrede gegen inhumane Umweltformen und sterile Architektur hielt. Er entwickelte seine Philosophie von den drei Häuten des Menschen, drei Schichten, die ihn umgeben, schützen und gedeihen lassen. Die erste ist seine natürliche Haut, die Hundertwasser konsequenterweise nackt zur Schau stellte. Die zweite Haut ist die Kleidung und die dritte ist sein Haus.

Für ihn persönlich war die natürliche, nackte Haut die ursprüngliche Haut seiner Kindheit. Er fühlte sich als Kind oft einsam und isoliert. Die natürliche Haut war das existenzielle, das einzige, was er hatte und der einzige Schutz. Die natürliche Haut als eine Art Rüstung, wenn auch fragil, hinter die er sich zurückziehen konnte. Wegen der früh erfahrenen Grausamkeit der Nazis und des Krieges musste er sich, um zu überleben, mit psychologischen Schutzbarrieren umgeben. Er brauchte eine Alternative, eine Gegenwelt und fand sie in seiner Kunst, in den Visionen von einer besseren Welt, die er in seinen Bildern entwarf und später auch in seiner Architektur.

Über die zweite Haut, die Kleidung, sprach er von den drei Haupt-Übeln: 1. die Uniformität, 2. die Symmetrie der Schnitte und 3. die Tyrannei der Mode. Er begann seine eigene Kleidung selbst herzustellen, nähte Hosen, Hemden und Socken aus unterschiedlichen Stoffen und fertigte sich seine eigenen Schuhe an. Grundsätzlich trug er verschieden farbige Socken und bügelte seine Kleidung aus Prinzip nie. Er entwarf und schneiderte sich eine Schirmmütze aus bunten Stoffresten und trug sie lange Jahre fast immer - selbst wenn er nackt malte, nackt segelte und nackt zuhause seine Zeit verbrachte..

Die dritte Haut, das Haus des Menschen, bietet Schutz und Raum zum Leben und muss deshalb das Wohlgefühl und die Lebendigkeit des Bewohners unterstützen. Hundertwasser war allerdings der Auffassung, dass sich der Mensch in seiner dritten Haut nicht wohlfühlen kann, wenn die Architektur der dritten Haut nicht den Bedürfnissen des Bewohners dient, sondern den Bedürfnissen einer Wohnbaugesellschaft, einer Stadt oder gar dem Einkommen eines einfallslosen Architekten. Hundertwasser war davon überzeugt, dass die Käfighaltung der modernen Wohnsiedlungen den Menschen schädigt. Also entwickelte er eine humanistische und natürliche Architektur, die nur dem Wohle des Bewohners verpflichtet ist. Jede Wohneinheit ist in seinen Entwürfen individuell gestaltet, jede hat ihr eigenes Farbkonzept, möglicht viele Fenster, jedes einzelne ein Unikat. Terrassen und Dächer sich begrünt. Die Balkone werden mit sogenannten Baummietern bepflanzt. Das heißt auf jedem Balkon wächst ein spezieller Baum - natürlich in angemessener Größe.

Alle Bauprojekte zeugen vom Verlangen des visionären Architekten Hundertwasser nach noch größerer Lebensqualität und dem Wunsch in größtmöglicher Harmonie und Einklang mit der Natur zu leben. Zitat aus einer Rede von 1983: „Die scheinbaren Mehrkosten eines ökologisch gesunden Hauses oder eines menschlichen Hauses sind gar keine. Denn sie werden durch eine höhere Lebensqualität, durch eine höhere Wohnqualität und durch Glücklichsein amortisiert. Seelische Depressionen kosten viel mehr Geld." Und 1996 schrieb er über den von ihm gestalteten Wohnkomplex „Wald-Spirale" in Darmstadt, der erst nach seinem Tode im Jahre 2000 mit 105 Wohnungen fertiggestellt wurde. Zitat: „Architektur soll den Menschen erheben und nicht gleichschalten und erniedrigen. Architektur soll für den Menschen da sein. Er muss sich geborgen, er muss sich wie zu Hause fühlen können. Es muss seine dritte Haut sein können."

1972 erweiterte Hundertwasser sein Schichtenmodell der drei Häute. Es kamen noch zwei Häute hinzu: Nummer vier: das soziale Umfeld, Familie und Freunde - und Nummer fünf: die globale Haut, also die Umwelt bzw. die Menschheit. Die vierte Haut der familiären und sozialen Umgebung schien für ihn die schwierigste zu sein. Hundertwasser war eher ein Einzelgänger denn ein sozial integriertes Wesen. Als Einzelkind geboren, verlor er schon nach seinem ersten Lebensjahr den Vater. Sein Familienleben bestand nur in der innigen Beziehung zu seiner Mutter. Einen größeren Familienverbund gab es nicht. Die Nazis hatten alle umgebracht. Als seine Mutter starb, fühlte Hundertwasser eine bodenlose Leere, die keine andere Frau je wieder auffüllen konnte. Seine beiden Ehen gingen sehr schnell wieder in die Brüche. Befragt, warum er keine eigene Familie gründen wolle, antwortete er, dass er seine ganze Kraft für seine Kunst brauche. Er könne sich nicht ablenken lassen, doch er könne auf schöne Frauen auch nicht verzichten, Frauen seien für ihn Musen. Frauen seien für ihn so wie schöne Blumen und schöne Pflanzen, sagte er wörtlich. Im Film von Peter Schamoni gab Hundertwasser zu: „Mein Verhältnis zu Frauen ist nicht ideal". Die einzige Frau, die er offenbar vorbehaltlos geliebt und respektiert hat, war seine Mutter.

Natürlich hatte Hundertwasser etliche Freunde und es gab auch immer eine Lebensabschnittspartnerin, doch in der Regel hielt er sie auf Distanz. Und nur ganz wenige Menschen kamen ganz nah an ihn heran. Die vierte Haut erweiterte sich grundsätzlich in seiner Theorie und auch für ihn persönlich über den Freundeskreis hinaus zu Gruppierungen, politischen und ökologischen Bewegungen und Institutionen, für die er sich zeitweise engagierte. Für die Aussöhnung zwischen dem jüdischen und arabischen Volk entwarf er 1978 eine Friedensfahne. 1982 schenkte er sein Poster „Rettet die Wale" an Greenpeace. Und sein Plakat „Rettet die See" war ein Geschenk für die Jacques-Cousteau-Stiftung.

Und das ist der fließende Übergang zu Hundertwassers Vorstellung von der fünften Haut des Menschen, seiner globalen Haut, seiner Verbindung zur Menschheit, zur Schöpfung, zu Mutter Erde und ihrer Natur. Nicht ohne Grund gab er sich den Namen Friedensreich. Er wollte reich an Frieden leben, mit der Natur, mit den Menschen und allen Kreaturen. Die Kunst war für ihn ein Reich des Friedens. Aber auch in der Natur fand er seinen Frieden. Hundertwasser war ein Naturschützer. Er wollte den Menschen wieder in Einklang mit der Natur bringen. So setzte er sich z.B. für die Humus-Toilette und für Pflanzen-Kläranlagen ein, und proklamierte in seinem Manifest „Die Heilige Scheiße", unsere menschlichen Fäkalien seien alles andere als ekelerregend, sondern Teil des natürlichen Kreislaufs. Er engagierte sich gegen Atomenergie und beteiligte sich an vielen Naturschutzprojekten. Die Natur war für ihn die Quelle der universellen Harmonie, die er vor den Überfällen der Menschen und den Schäden der Industrie zu schützen versuchte. „Es gibt keine Missstände der Natur, es gibt nur Missstände des Menschen", lautet einer seiner Botschaften.

In seiner Wahlheimat Neuseeland lebte er seine Vorstellung vom Einklang mit der Natur ohne jeden Luxus, auch ohne Komfort. Im Norden der Nordinsel, nicht weit von der Inselbucht „Bay of Islands", hatte er sich schon in den 1970er Jahren ein großes naturbelassenes Areal, am Rande des Regenwaldes gekauft. Ein paar Kilometer entfernt vom Dorf Kawakawa, nur über kaum befestigte Wege erreichbar, liegt sein Anwesen Kaurinui, (in 35 Grad 19 Minuten südlicher Breite und 174 Grad 9 Minuten östlicher Länge), für Ortsunkundige und ohne GPS kaum zu finden. Dort verbrachte er in seinen letzten Lebensjahren den größten Teil des Jahres - in fast eremitischer Abgeschiedenheit, in größtmöglicher Bescheidenheit und naturnaher Einfachheit. Als eher ärmliche Behausung beschrieben Besucher den ehemaligen Schweinestall, in dem er schlief und arbeitete. Was erschrockene Besucher aus ihrer Sicht als Verwahrlosung ansahen, war für ihn der Inbegriff des einfachen Lebens im Einklang mit der Natur. Was manche Besucher als verschmutzt und primitiv, geradezu unästhetisch ansahen und was in ihren Augen für einen Kunstbotschafter der Schönheit nicht passte, dass kein Garten angelegt sei, nichts bewirtschaftet würde, alles sich selbst überlassen und zugewuchert sei, dass sein Zuhause so unansehnlich sei, das war für ihn die Schönheit eines natürlichen Lebens.

Er vertrat doch die Vorstellung vom Werden und Vergehen, dem natürlichen Kreislauf, in den der Mensch sich einzufügen hat, möglichst ohne Spuren zu hinterlassen. 1979 schrieb er in seinem neuseeländischen Naturparadies eine Art Testament, in dem es heißt: „Ich freue mich schon darauf, selbst zu Humus zu werden, begraben, nackt und ohne Sarg unter einer selbstgepflanzten Buche, auf eigenem Land, in Ao Tea Roa", dem Land der weißen Wolke. Und so geschah es dann auch. Hundertwasser wurde auf seinem Land unter einem Tulpen-Baum nackt und ohne Sarg begraben, im Garten der glücklichen Toten, wie er diesen Fleck Erde genannt hatte.

Das Grab ist übrigens für seine Anhänger und Bewunderer nicht zugänglich. Das Betreten des Anwesens ist für Unbefugte untersagt, so haben es die Nachlassverwalter der Hundertwasser-Stiftung in Wien verfügt. Vielleicht befürchtet man, dass die Besucher, die von der Schönheit der Malerei und Architektur des Meisters begeistert sind, verstört sein könnten, wenn sie sehen, unter welchen vergleichsweise primitiven Bedingungen Hundertwasser gelebt und in welch einfachster Behausung, die viele als unschön empfinden dürften, er gewohnt und gearbeitet hat. Für Hundertwasser waren seine Bilder und Lebensumstände schön. Der potentielle durchschnittliche Käufer seiner Bilder könnte das anders sehen.

Hundertwassers politische Ansichten waren nicht durchgängig konsistent und hin und wieder auch irritierend. Einerseits wandte er sich als Kosmopolit gegen Nationalismus und Kleinstaaterei. Andererseits gab er sich in seinen letzten Lebensjahren als EU-Gegner zu erkennen, propagierte den Erhalt regionaler Eigenarten und setzte sich für die konstitutionelle Monarchie in Österreich ein. Zum 75. Geburtstag von Otto von Habsburg schrieb Hundertwasser in seiner Widmung: Zitat:

„Österreich braucht ein übergeordnetes Zentrum, bestehend aus immerwährenden höheren Werten, - die man gar nicht mehr auszusprechen wagt -, wie Schönheit, Kultur, inneren und äußeren Frieden, Glaube, Reichtum des Herzens [...]. Österreich braucht einen Kaiser, der dem Volke untertan ist. Eine übergeordnete und strahlende Größe, zu der alle Vertrauen haben, weil diese Größe im Besitz aller ist. Die rationalistische Denkungsart hat uns zwar einen kurzlebigen höheren amerikanischen Lebensstandard auf Kosten der Natur und der Schöpfung gebracht, der jetzt wieder zu Ende geht, doch unser Herz, unsere Lebensqualität, unsere Sehnsüchte zerstört, ohne die ein Österreicher nicht leben mag. Österreich braucht eine Krone! Es lebe Österreich! Es lebe die konstitutionelle Monarchie. Es lebe Otto von Habsburg!" - Zitatende.

Dieser Otto von Habsburg, der lange Jahre für die CSU im Europäischen Parlament saß und im Juli diesen Jahres gestorben ist, fiel immer wieder unangenehm auf durch rechtskonservative Äußerungen zu Hitler-Deutschland, zum Rechtradikalismus und zum Einfluss der Juden in den USA, oder dass die Österreicher während der Nazizeit nur Opfer, nicht Täter waren. Hundertwasser hat offenbar nicht alles gelesen, was Otto von Habsburg politisch vertrat, denn sonst hätte er ihm nicht die Krone aufsetzen können. Denn Hundertwasser war Humanist und keinesfalls Rassist. Und erst recht absolut kein Anhänger von braunem Gedankengut. Und dennoch kritisierte er in einer Rede die von ihm festgestellten Auswüchse in Teilen der modernen Malerei und sprach irritierenderweise ausgerechnet im Nazi-Jargon von „entarteter Kunst". An anderer Stelle sagte er: „Ich bin tolerant. Aber ich bin empört über jede Form von Unmenschlichkeit, ob in der Kunst, der Architektur oder in der Gesellschaft." Und das muss man ihm abnehmen: er war überzeugter Pazifist, Streiter für das Recht der Menschen, in Frieden und Schönheit und in Harmonie mit der Natur zu leben.

Er wollte allen Menschen ein Tor zum Paradies öffnen. Zitat:

„Ich möchte, und das mache ich auch ganz instinktiv, vorleben, den Menschen vorleben, vormalen, ein Paradies, das jeder haben kann, er braucht nur zuzugreifen. Das Paradies ist ja da, wir machen es nur kaputt. - Ich will zeigen, wie einfach es im Grunde ist, das Paradies auf Erden zu haben. - Und alles das, was die Religionen und die Dogmen und die verschiedenen politischen Richtungen versprechen, das ist alles Nonsens.

Ich glaube, und ich bin absolut sicher, deswegen glaube ich, dass Malerei eine religiöse Beschäftigung ist, dass dann der tatsächliche Impuls von außen kommt, von irgendetwas anderem, was wir nicht kennen, eine undefinierbare Macht, die kommt oder nicht kommt  und die einem die Hand führt. Man hat früher gesagt, es wäre die Muse; das ist ein blödes Wort natürlich, besser gesagt ist es eine Art Erleuchtung. Und das einzige, was man tun kann, ist, das Terrain vorzubereiten, dass diese außerirdischen, oder wie man sie sonst nennen kann, Impulse einen erreichen können. Das heißt, sich bereithalten. Das heißt, den Willen ausschalten, die Intelligenz ausschalten, das "Besser-machen-Wollen" ausschalten, die Strebsucht ausschalten.

Ich möchte vielleicht bezeichnet werden als Magier der Vegetation oder so etwas ähnliches, es geht um Magie, dass ich ein Bild anfülle, bis es voll ist mit Magie, wie wenn man ein Glas anfüllt mit Wasser. Alles ist so unendlich einfach, so unendlich schön." (Venedig, 1975)

Und damit sind wir wieder bei der Schönheit, bei Hundertwassers Schönheit, wohlgemerkt. Aber sie korrespondiert natürlich mit den kollektiven großen Menschheitsidealen vom Wahren, Schönen Guten.

In manche seiner Bilder kann man hineinspazieren wie in eine wunderbare Landschaft, in der es ständig etwas Neues zu entdecken gibt, ein Füllhorn an Geschichten und Ideen, ein Bild gewordenes sichtbares Gleichnis von Schönheit, Magie und Fantasie. Und wenn man von diesem Spaziergang durch seine Bilderwelt mit all den wundersamen Eindrücken in die Realität zurückkommt, dann ist man nicht mehr der gleiche wie zuvor. Und die Wirklichkeit, in die man zurückkehrt, scheint für eine Weile von einem zauberhaften Glanz überzogen zu sein. Besucht man eines der von ihm entworfenen Gebäude, schaut sich um, lässt die Atmosphäre auf sich wirken, dann verspürt man unwillkürlich ein Gefühl von Heiterkeit und versteht, was er mit seinem Kernsatz meinte: „Schönheit ist ein Allheilmittel." 

„Die Kunst ist der Weg, der zu Schönheit führt. Und die Harmonie mit der Natur ist der Schlüssel zum Glück.", sagte Hundertwasser, und entwickelte damit seine Lebensgleichung: „Natur + Schönheit = Glück".

In der Hundertwasser-Biografie von Pierre Restany: „Hundertwasser - Die Macht der Kunst - Der Maler-König mit den fünf Häuten" heißt es im Schluss-Kapitel  - Zitat: „Er lebt völlig im Einklang mit seiner Sicht der Dinge, er versteht die Welt als ein ständig schöner werdendes Bild. Die Anzahl der Menschen, die dank Hundertwasser besser leben, ist bereits sehr hoch und wird weiter wachsen, denn er hat uns die Macht der Kunst vorgelebt und ständig versucht, den schöpferischen Keim, der in jedem Menschen steckt, zu erwecken. Jetzt liegt es an uns, das ewige Glück dieser Schönheit zu entdecken und weiter zu entwickeln." Dem ist nichts weiter hinzuzufügen. (VR 24.11.11)

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Vorwort zum Mediabook Mani Neumeier Werkausgabe (Vertrieb Zweitausendeins):   

TROMMEL-MANI(E)                                 VR 24.08.11

„Ich bring's einfach nicht fertig, immer nur den gleichen Scheiß' zu machen" (Mani Neumeier)

Welche Band in Deutschland kann, erstens, auf eine bald 45-jährige Geschichte zurückblicken, kann, zweitens, auf eine musikalische Praxis verweisen, die nichts mit peinlichem Retrosound und Aufguss alter Hits zu tun hat, sondern den Herausforderungen der Jetztzeit musikalisch begegnet - und vermag es, drittens, mit immer wieder kreativen CDs und Auftritten sich an vorderster Front der eigenwilligen und unverwechselbaren Bands zu behaupten. Es gibt nur eine Gruppe in Deutschland, die alle drei Kriterien erfüllt: Guru Guru mit dem Urgestein im Zentrum: Schlagwerk-Guru Mani Neumeier. Zur musikalischen Frischzellenkur des inzwischen 70-jährigen Perkussions-Maniac Mani zählen seine Nebengruppen: Tiere Der Nacht, ein avantgardistisches Acid-Jazz-Experimentierfeld, daneben Lover303 mit Conni Maly, ein Voodoo-Trance-Projekt mit Electronic-Loops und Soundsamples, weiterhin Acid Mothers Guru Guru, ein Psychedelic-Power-Trio, 2006 in Japan mit zwei japanischen Musikern ins Leben gerufen, dann nicht zuletzt Der Teufel und sein Guru, ein Elektro-Jazz-Duo mit dem Gitarristen Hans Reffert - und schließlich sein privates Klangkaleidoskop und Soloprojekt Terra Amphibia, eine Soundcollage aus Naturgeräuschen, Ambient-Atmosphären und Weltmusik-Grooves.

In Japan, wo man ihm besondere Wertschätzung entgegenbringt und ihn als wächserne Reproduktion ins Tokioter Wachsfiguren-Museum neben Jimi Hendrix gestellt hat, gilt Mani als Inbegriff des Kraut-Rock. Mani Neumeier, ein „German Kraut"?

In der englischen und US-amerikanischen Umgangssprache werden die Franzosen „Frogs", Frösche, genannt, weil sich die Franzosen angeblich unentwegt an Froschschenkeln laben. Und die Deutschen nennt man „Krauts", nicht weil einer ihrer langjährigen Kanzler Kohl hieß, sondern weil sie in den Augen britischer Witzbolde und Karikaturisten ständig Kohl und Sauerkraut in sich hineinstopfen. Die angloamerikanische Rockszene benutzte den Begriff „Kraut" anfänglich eher abfällig, um damit den bundesdeutschen Rock der frühen siebziger Jahre zu ironisieren oder gar lächerlich zu machen. Gründe für diese Häme lieferten die Deutsch-Rock-Gruppen selbst nicht selten unfreiwillig: etwa so manche englisch singende Band durch ihr unverständlich bis falsch ausgesprochenes Kauderwelsch-Englisch, oder durch allzu schwülstiges Pathos oder durch eine stocksteife Kasernenhof-Rhythmik ohne Swing und Groove.

Doch im Laufe der Jahrzehnte wandelte sich der Begriff „Krautrock" von einer Lachnummer zu einem Qualitätsbegriff. Die späte Wertschätzung, ja zum Teil fast kultische Verehrung von Deutschrock-Altmeistern der Siebziger wie Amon Düül II, Can, Kraftwerk und Guru Guru - eine späte Rehabilitation, die speziell in englischen Musikerkreisen ihren Anfang nahm - hat diesen Sinnes- und Bewertungswandel bewirkt. Nicht nur die englische Musikpresse betrieb plötzlich Wurzelforschung in Sachen Krautrock, auch die internationale Techno-Szene und die Vertreter des Neo-Psychedelic und New-Progrock zogen den Hut vor den Altvorderen des Krautrock.

Während etliche Deutsch-Rocker der ersten Stunde entweder weihevoll oder sphärisch jenseitig daherkamen wie z.B die Berliner Tangerine Dream und Ash Ra Tempel, oder cool roboterhaft wie Kraftwerk aus Düsseldorf, oder avantgardistisch experimentell wie Can aus Köln, oder anspruchsvoll und gegenkulturell wie die Münchner Amon Düül und Embryo - jedenfalls meist ernsthaft, theoretisch untermauert und oft von teutonischer Schwere belastet - da kam das Musiker-Kollektiv Guru Guru aus der Wahlheimat Odenwald eher locker tänzelnd, dabei musikantisch hochkarätig und immer wieder lustvoll grinsend daher, dank der Späße von Mani Neumeier. Der Palmenzweig für die Heiterkeit im Krautrock gebührt ohne Zweifel Mani und seinen Freunden von Guru Guru. Man denke nur an Manis legendären „Elektrolurch" (1973), oder an all die komischen Hühner von „Chicken Rock" (1975) über „Dös War I" (mit dem Refrain ‚Jetzt lass' I alle Hühner fliegen', 1979) bis „Blue Huhn" (1981). Es wird berichtet, dass er bei Konzerten Käfige mit Hühnern auf die Bühne geschleppt, das Federvieh frei gelassen und ins Publikum gescheucht habe. Das Hühner-Gegacker zieht sich durch Manis Leben wie eine Art Leitmotiv, respektive Hühnerleiter-Motiv. Die Mär wird erzählt, dass Mani sein erstes Geld auf einer bajuwarischen Hühnerfarm verdiente. Seine erste Rhythmus-Schule war eine Lehre als Spengler. Seitdem klopft und klöppelt er sich mit Mani-scher Perkussion und Präzision durchs Leben und erspielte sich den Ruf, einer der individuellsten, kreativsten und vielseitigsten Schlagwerker Europas zu sein.

In den rund 55 Jahren seiner persönlichen Musikergeschichte hat er stilistisch fast alles getrommelt, was man unter dem weiten Mantel der populären Musik mit Trommelstöcken und rhythmischen Händen bearbeiten kann, von Freejazz bis Popsongs, von lärmendem Powerrock bis zu leisen Ambient-Klängen, von Elektronik bis Tango und Calypso, von Krautrock bis Weltmusik, von strukturiertem Kreativ-Chaos bis imaginativen Sound-Tableaus. Ein Grund für diese chamäleonartige Bandbreite ist weniger ein ruheloser Suchtrieb, als vielmehr ein universelles Interesse an Musik und eine vielseitige Begabung.

Mani Neumeier wurde am 31.12.1940 in München geboren, zog als 13-jähriger mit seiner Familie nach Zürich und begann dort seine Musikerlaufbahn. Ab 1964 spielte er Jazz und improvisierte Musik mit dem Irene Schweizer Trio, gefolgt von Freejazz-Aktivitäten mit dem Manfred Schoof-Quintett, mit Alexander von Schlippenbach und Peter Brötzmann. Er machte Aufnahmen mit dem Globe Unity Orchestra, mit Wolfgang Dauner, Champion Jack Dupree und George Gruntz. Der Jazzpapst Joachim Ernst Berendt lobte ihn damals als „größte rhythmische Begabung des deutschen Freejazz". Doch 1968 schlug Mani ein neues musikalisches Kapitel auf. Gemeinsam mit dem Bassisten Uli Trepte gründete er die Free-Rock-Gruppe Guru Guru. Live-Premiere feierte das anfängliche Trio im August 1968 auf dem Heidelberger „Holy Hill". Im September '68 folgten dann zwei große Auftritte, zum einen gemeinsam mit Tangerine Dream und Amon Düül bei dem Festival „Deutschland erwacht - Popmusik aus deutschen Landen" und, wenige Tage später, in der Essener Grugahalle anlässlich der „Internationalen Essener Songtage". Damit hatte sich Guru Guru etabliert und in Deutschland einen Namen gemacht.

Dass sich Mani damals vom Jazz ab und dem Pop/Rock zuwandte, das begründete er so: sein Sinneswandel sei gekommen, als er gemerkt habe, dass die „ganzen jungen Zähne in den Beatschuppen verschwunden" seien und den Jazzern „nur der kalte Kaffee von gestern übrig geblieben" sei. „Frauen mögen keinen Jazz. Also spiele ich jetzt Rock'n'Roll." Im Jahre 1967 konnte man über Mani Neumeier und seine Inspirationsquellen als Schlagzeuger zum ersten Mal im Magazin Sounds Erhellendes lesen: „Alles, was täglich um mich herum raschelt, klingelt, knattert, quietscht, pfeift, rauscht, tröpfelt, poltert, kollert, schmatzt, flirrt, hämmert, brutzelt, schnarrt und IST". Sein Musiker-Kollege Hans Reffert schrieb 2001, Mani Neumeiers Lebens- und Trommel-Philosophie sei im Grunde sehr einfach. Für ihn seien „alle verfügbaren Klänge des Universums Musik: Geräusche, Dschungel-Töne, Fabrik-Klänge, Volksmusik, Jazz, Rock'n'Roll, Maschinen-Beats, serielle Musik - eine unendliche Sound-Kollage". Das gilt bis heute und war auch schon in der Anfangszeit von Guru Guru zumindest ansatzweise hörbar.

Auf den ab 1970 veröffentlichten Alben wie „UFO" (1970), „Hinten" (1971), „Känguru" (1972), „Don't Call Us We Call You" (1973) und „Dance Of The Flames" (1974) zelebrierten Guru Guru ein extravagantes und experimentierfreudiges Musikkonzept zwischen Underground, Acidrock, Jazzrock, Psychedelia, frühem Ethno-Beat und anarchischen Clownerien. Der Erfolg kam und ging und pendelt bis heute auf einem Niveau zwischen „ganz okay" und „Alle Achtung!".

Dann schrieb man das Jahr 1979. Der Jazzrock war mausetot und roch entsprechend. Komplexe Arrangements waren mega-out und geradezu verpönt. Der Punk hatte alles Ziselierte, Verschnörkelte, alles kunstvoll sich Gebärdende in Klump und Asche gehauen. Dann wurden die genialen Dilletanten des Punk allmählich von ambitionierteren New Wave-Musikern abgelöst. Angesagt war jetzt ein nicht mehr so wütendes Reindreschen mit drei Akkorden und schnellen Stakkato-Rhytmen wie beim Punk, aber auch der New Wave blieb energisch, kantig, roh und verkündetet als Botschaft: Vergiss den alten Schrott der siebziger und sechziger Jahre, hier kommt die „Neue Welle", die alles Alte hinwegspült. Wen interessiert noch das künstlerisch wertvolle Rumgewichse, die verjazzte Rumfuddelei der Siebziger. New Wave macht alles neu.

In diesem Jahr '79 steht ein gewisser Mani vor dem Studio-Mikrofon, sucht nach Worten für einen guten, zeitgemäßen Text, während seine Mitmusiker um ihn herum unbeirrt allerfeinste Jazzrock-Arrangements gekonnt spielen - nur, leider, altmodisch unzeitgemäß, völlig überholt, absolut zurückgeblieben, eben „70er-Jahre-mäßig". Und Mani ringt dazu nach Worten. Und er tut so - witzig ironisch - als fiele ihm nichts ein, außer dem Refrain: „Was für 'ne Welt!" - ein zeitloser Satz, ein ewig aktuelles, staunendes Zur-Kenntnis-nehmen des letztlich nicht Begreifbaren. „Was für 'ne Welt", das hatte schon fast etwas Philosophisches, wie es Mani damals so gelassen und quasi en passant in den Raum stellte. Und dieses Wundern über die Dinge und Zeitphänomene mit leicht anarchischem Blick, mit Ironie und Humor hat sich bis in die heutigen Songtexte von Mani Neumeier fortgesetzt - wobei die Worte bei Guru Guru in der Regel eine eher untergeordnete Rolle spielten und auch nicht gerade zu den herausragenden Stärken der Band gehörten.

Mani Neumeier bastelte mit Worten ähnlich spielerisch wie mit Klängen und Instrumenten. Er hat sogar eigene Klangerzeuger erfunden wie etwa das „Mani-Tom", eine aufblasbare Trommel, bei der durch erhöhten oder verminderten Luftinhalt der Klang modifiziert werden kann. Und, er bezog Tablas, indische Glocken, tibetische Becken und balinesische Gamelan-Instrumente in sein weitläufiges Drumset mit ein. „Ich spiele Orchester und kein Schlagzeug."

1977 erschien das Guru Guru-Album „Globetrotter", mit dem sich die Gruppe als Ethno-Rock-Pioniere profilierte. Mani entwickelte sich selbst in der Folgezeit zum Globetrotter, bereiste als Weltenbummler und Klang-Abenteurer vor allem den asiatischen Raum, war oft unterwegs zwischen Finkenbach im Odenwald (seinem deutschen Domizil, in dem über viele Jahre das allsommerliche Finki Open Air veranstaltet wird) und fernen Zielen in Nepal, Bali, Indien, Korea, Mongolei, Madagaskar, Australien und Japan. Aber nicht als Abhak-Tourist, nicht als „Globetrottel" war Mani auf Reisen, sondern als aufmerksamer Beobachter und Feldforscher auf der Suche nach inspirierenden Klängen und dem ultimativen Trommel-Groove. Manis CD-Trilogie „Terra Amphibia" erschloss neue Klangwelten. Auf seinen Streifzügen durch die Welt hatte er als „leidenschaftlicher Ton-Jäger" immer ein Aufnahmegerät dabei, daneben aber auch Perkussionsinstrumente, „kleine Teile, die nicht schwer sind". So konnte er, wann immer sich die Gelegenheit ergab, lautmalerisch-perkussiv in Kommunikation mit seiner Umgebung treten - mit Vögeln, Affen und geheimnisvollen, verborgenen Klangräumen im Dschungel, an Gewässern oder in Siedlungen, mit allem, was kreucht und fleucht. Und natürlich trat er auch, wann immer möglich, in Kontakt mit einheimischen Musikern, deren ethnische Instrumente er gerne selbst spielerisch ausprobierte. Wieder zuhause angekommen, sondierte er seine Ausbeute an Tierlauten, Naturgeräuschen, spontanen Musik-Sessions und ließ sich inspirieren, mit diesem vielfältigen Klangmaterial musikalisch zu arbeiten. Manchmal alleine in meditativer Versenkung, oft auch zusammen mit befreundeten Musikern aus seiner Guru-Guru-(plus Ableger-)Community kreierte er ungemein originelle Sound-Gemälde, Ton-Trips, Ambient-Tracks, repetitive, minimalistische, fein gesponnene Gewebe voller Klangfantasie, trance-ähnlichen Schwingungen, hellwachen Traumbildern, leisen Laut-Impulsen und klanggewordener Lebensfreude, immer getragen von einem lebendigen Puls, dem unverwechselbaren Lebens-Rhythmus, der in den Adern dieses Ausnahmemusikers vibrierend fliest. In seinen „Terra Amphibia"-Klangkunstwerken breitet sich Manis Geist und Seele und seine Liebe zum Leben hörbar aus: erdverbunden und himmelweit, im freien Fluss mäandernd. Hier klingt alles nach dem spirituellen und weltoffenen Kosmos eines aufgeklärten, modernen Schamanen und Freigeist, der er ist - mit elektrischer, energetischer Verstärkung natürlich auch im Umfeld seiner diversen Rock-Formationen.

Bei der Tournee der „Deutschen Rockhelden" im Jahre 2006, die ich organisieren und begleiten durfte, erlebte ich Mani Neumeier jeden Abend (an der Seite von Anne Haigis, Helmut Hattler, Ingo Bischof, Ali Neander und Andreas Neubauer) gleichermaßen als clownesken Musik-Entertainer wie als individuellen Trommel-Artisten und vom Publikum hochgeschätzte Persönlichkeit der deutschen Rock-Geschichte. Sein Schlagzeug- und Percussion-Solo gehörte immer zu den frenetisch bejubelten Höhepunkten des Konzertes. Vor allem seine Show-Einlage als Mischung aus Knecht Ruprecht und Rumpelstilz mit großem Sack über der Schulter löste stets Heiterkeit aus, wenn Mani seinen Sack mit dem Spruch „Suck it to me" auf die Bühne entleerte. Blechschüsseln aller Größen purzelten dann auf den Bühnenboden und alle Köpfe der Zuschauer reckten sich, um verfolgen zu können, wie Meister Mani sein blechernes Schüssel- und Saucieren-Orchester klöppelnd bearbeitete und zu Höchstleistungen führte, was Tonvarianten der Blechnäpfe, Sprunghöhen der Saucieren und Rhythmen der rasenden Trommelstöcke anging. Als darüber diskutiert wurde, ob diese furiose Blechtrommelei auf dem Tonträger des Konzertmitschnitts mitenthalten sein solle, meinte Mani: „aber nur als Bonus-Dreck".

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Interview, geführt von Gert Heiland von der Neuen Wetzlarer Zeitung und Marburger Neuen Zeitung (Zeitungsgruppe Lahn-Dill/Mittelhessen), zur Herbsttour 2010 und zum Bühnenprogramm „IMAGINE John Lennon" (28.09.10)

Frage 1: Was ist das Besondere an John Lennon, was zeichnet ihn aus, grenzt ihn zu den anderen ab?

VR: Neben seinen herausragenden Fähigkeiten als begnadeter Songschreiber und Sänger, ist es seine facettenreiche und vielschichtige Persönlichkeit, die bis heute fasziniert. John Lennon war ein widersprüchlicher, aber aufrichtiger Mensch. Seine Ehrlichkeit konnte schonungslos und verletzend sein. Auch wenn er seine Meinungen, Einsichten und Ziele änderte, er engagierte sich immer mit Haut und Haar. Er war heiß oder kalt, aber niemals lau. An ihm musste man sich reiben. Sein Beatles-Widerpart Paul war und ist dagegen ein Konsens-Typ, im Vergleich zu John eher glatt und einfach nett. John war alles andere als das: er konnte austeilen, rüpelhaft sein und ungerecht. Unvergessen bleibt die wütende, hämische, fast schon hasserfüllte Songattacke des Frieden predigenden "Imagine"-Sängers gegen seinen früheren Intimus Paul in "How Do You Sleep" aus dem "Imagine"-Album von 1971. Äußerlich zwar widerborstig und sich als cooler, schlagfertiger Rocker gebend, dazu im Verhalten oft ironisch bis zynisch, war Lennon tief drinnen doch ein verletzlicher Romantiker mit einer verletzten Seele. Wie kein anderer Beatle war er experimentierfreudig und stets auf der Suche. Ringo hat sich dagegen in seiner Durchschnittlichkeit gemütlich eingerichtet und George fand seine spirituelle Heimat in der Krishna-Bewegung. John dagegen irrlichterte von der Urschrei-Phase seines Albums "John Lennon/Plastic Ono Band" (1970) über seine kämpferische Polit-Phase des (Flop-)Albums "Some Time In New York City" (1972), über seine Exzess-Phase mit diversen Saufkumpanen des "Lost Weekend" und dem Album "Walls and Bridges" (1974), bis zu seiner Hausmann- und Familien-Phase des Albums "Double Fantasy" (1980). In all dieser Inkohärenz findet sich doch ein roter Faden: die ewige Frage: "Who am I?" (siehe und höre sein Song "Look At Me") und seine immerwährende Suche, nach Liebe, Anerkennung und Erfüllung.

Frage 2: Ihr Lieblingssong von John Lennon und warum?

VR: 1. Aus der frühen Beatles-Ära 1965: "In My Life". Weil der Song textlich ungemein sensibel und reflektierend ist und kompositorisch manchem Kunstlied ebenbürtig.

2. Aus der kreativsten Beatles-Ära 1967: "I Am The Walrus". Wegen der Experimentierfreude in Text und Musik. Wegen der harmonischen Endlosschleife, die sich in alle Ewigkeit weiterdreht, obwohl sie auf der
Platte ausgeblendet wurde; und wegen der wunderbar absurden bis tiefsinnigen und verhonepipelnden Textzeile: "elementary penguin singing Hare Krishna, man you should have seen them kicking Edgar Allan Poe" (nur als Beispiel).

3. Aus seinem ersten Soloalbum von 1970: "Love", ein wunderschönes, leises Lied über die Universalität der Liebe. Der Text ist prägnant wie ein Haiku. Und der Grundtenor ist der Wunsch, geliebt zu werden, vielleicht das wichtigste Menschenrecht überhaupt und eines der wichtigsten Themen im Werk von John Lennon.

Frage 3: Eine (kurze) Anekdote , die Sie erzählen werden?

VR: Was ich selbst mit eigenen Augen am 25. Juni 1966 in der Essener Gruga-Halle beim Auftritt der Beatles sah, wie John Lennon auf der Bühne vor seinen Fans pathetisch in die Knie geht und sie übertrieben gestisch anhimmelt, worauf die Fans vor Begeisterung wie entfesselt toben, obwohl das doch ganz eindeutig eine Verarsche war. (Diese Anekdote ist aber nicht Bestandteil des Bühnenprogramms "IMAGINE John Lennon")

Frage 4: Wer ist für Sie ein Lennon unserer Tage?

VR: Sie werden verstehen, dass es für mich nur einen einzigen John Lennon
gibt und geben kann.

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Beitrag für die Deutsche Welle, Bonn - 01.06.2010

„Faszinosum Open Air"

Man kann die Musik, die man mag, in Zellophan verpackt, mit Barcode versehen, als CD kaufen und über Super-Musikanlagen gestochen scharf und glasklar hören, man kann die favorisierte Musik auf alten Vinyl-Platten nostalgisch über edelste Grammophone abspielen und sich am warmen Klang delektieren, einschließlich der kleinen Knister-Störgeräusche - jeder Knackser „tells a story" - man kann seine Lieblings-Songs aus dem Netz saugen und als mp3-Datei über I-Pods, Handys etc. jederzeit und überall verfügbar machen. Aber dabei fehlt immer etwas Entscheidendes: Spannung, Atmosphäre, Direktheit, schweißtreibende unmittelbare Energie, auch so etwas wie Kommunikation und ein gemeinschaftliches Erlebnis. Das alles bringt die Musik nur rüber, wenn sie live ist, dann erst übermittelt sie ihre ganze Botschaft.

(Live is live - Opus)

Lebendig ist Musik nur, wenn sie für ein Publikum live aufgeführt wird. Warum nicht bei einem Festival unter freiem Himmel?

(Liveatmo)

Einfach geil, super-cool, hammermäßig, so bejubeln junge Fans den Besuch eines Openair-Festivals.

Sommer, Sonne Open Airs, auch wenn die Sonne nicht immer mitspielt: in der wärmeren Jahreszeit pilgern alljährlich Tausende von Pop- und Rockfans in die Freiluft-Arenen, um neben einem Gemeinschaftsgefühl auch die angesagten Stars und Newcomer der aktuellen Popszene live zu erleben. Seit gut 50 Jahren sind die Massenwallfahrten zu den Feldlagern der Popkultur ein Phänomen.

Die Geschichte der großen Open Air-Festivals begann im „Summer of Love" 1967 in Kalifornien. Auf der Festwiese von Monterey fand das erste „Love and Peace"-Massen-Festival statt. Es war das erste große internationale Popereignis, bei dem etwa 50.000 Besucher zusammenkamen, um die Popgrößen der damaligen Zeit live zu erleben, Stars wie The Who, The Byrds, Jimi Hendrix und neben vielen anderen auch eine junge Sängerin, die damals noch ganz am Anfang ihrer Karriere stand und die Festivalbesucher gleichermaßen schockierte wie faszinierte mit ihrer whisky-getränkten, energie-geladenen Blues-Röhre

("Down on me" - Janis Joplin)

In Monterey wurde im Juni 1967 nicht nur Janis Joplin entdeckt, dort haben die Plattenbosse und Konzertveranstalter zum ersten Mal registriert, dass mit Popmusik und Festivals großes Geld zu machen ist. Ebenso friedlich wie das „Monterey International Pop Festival" verlief zwei Jahre später auch das zum Mythos überhöhte „Woodstock Music and Art Festival", das im August 1969 im US-Bundesstaat New York stattfand: „legendäre Tage voller Frieden, Liebe und Musik", wie es damals zu lesen war.

(O-Ton Woodstock „Peace")

Die etwa 500.000 Woodstock-People skandierten ganz im Sinne der Hippie-Gegenkultur „Peace, peace" und standen dabei im Schlamm oder saßen im Matsch bei strömendem Regen, während Country Joe McDonald das berühmte böse F-Wort mit dem Publikum buchstabierte.

(„Gimme an F" - Country Joe McDonald in Woodstock)

Woodstock ist zum Synonym geworden für das Open Air Festival als Wallfahrtsort der Popjugend. Doch das allererste Open Air Groß-Ereignis der Popgeschichte fand am 23. August 1964 vor 17.000 schreienden Kids statt. Es war zwar kein Festival, denn es trat nur eine einzige Band damals in der Hollywood Bowl von Los Angeles auf. Doch diese 4 Pilzköpfe legten den Grundstein für die künftige Open Air-Entwicklung. Stimmt das wirklich? Yeah Yeah Yeah

(„She loves you" - Beatles-Konzert 1964 Hollywood Bowl)

An diesem Augusttag vor 46 Jahren wurde das Massenspektakel „Open Air Konzert" geboren. Warum Tausende von Leuten zu einem Konzert unter freiem Himmel strömen, ist in diesem Fall leicht beantwortet. Die 17.000 Fans, zum damaligen Zeitpunkt die größte Menschenmenge, die je zu einem Popkonzert im Freien gekommen war, wollten natürlich ihre Idole John Paul George und Ringo sehen. Ein Jahr später spielten die Beatles im ausverkauften New Yorker Shea Stadion vor über 55.000 Fans.

(Atmo Shea-Stadion)

Worin liegt die Faszination der großen Open Air Veranstaltungen? Im Falle der Beatles zu Zeiten der hysterischen Beatlemania war das keine Frage. Aber heutzutage strömen Tausende auch zu Newcomer-Festivals, bei denen nur relativ unbekannte Bands auftreten.

(Festival Liveatmo) + („Shine" Collective Soul)

Popkonzerte unter freiem Himmel gehören zu den schönsten Erfahrungen, die der Sommer einem musikbegeisterten Menschen bieten kann.  Aber was ist, wenn der Himmel seine Schleusen öffnet, wenn es kalt und windig ist? Dann wird schnell klar, dass Konzerte unter freiem Himmel für einen optimalen Musikgenuss höchst ungeeignet sind. Das gilt nicht selten auch bei günstigen Wetterbedingungen.

Die Beschallung, die Akustik, das unverfälschte Hören der live aufgeführten Musik ist schon in geschlossenen Räumen nicht unproblematisch; im Freien ist eine gute Akustik oder gar ein optimaler Klanggenuss fast ein Ding der schalltechnischen Unmöglichkeit. Weiter hinten auf dem Festivalgelände wird der vielleicht noch so gut abgemischte Sound vom Winde verweht, in der Nähe der Bühne, da wo die Optik am besten ist sorgt der akustische Druck der Lautsprecher dafür, dass einem das Haupthaar nach hinten gefönt wird, potentielle Hörschäden inklusive. Das heißt: die akustischen Bedingungen bei Open Air Festivals sind oftmals ein Graus. Das weiß fast jeder Festivalbesucher. Warum also geht er trotzdem hin?

Um zu sehen und gesehen zu werden? Wegen des Gemeinschaftsgefühls, der Vorstellung von wir-sind-alle eine Familie? Wer ein Groß-Festival schon mal besucht hat, weiß, die Erfahrung von Gemeinsamkeit beschränkt sich meist darauf, dass man Teil einer Masse ist. Oder wie es ein Kritiker formulierte: „Die Manifestation einer gemeinschaftsbildenden Kraft, die Hoffnung auf solidarisches Erleben, erfüllt sich nur darin, dass die Besucher einige Zehntausende zählen".

(Atmo Festival „Rock am Ring")

Quantität ist das vor allem herausragende Phänomen eines Mega-Festivals: die Masse an Menschen, an auftretenden Künstlern, an Phonzahlen, und nicht selten auch die Quantität an Kommerz. Oftmals sind die Festivals gigantische Werbeveranstaltungen für Konsumgüter und Genussmittel. Die Tabak-, Getränke- und Klamottenindustrie hat die großen Festivals längst in der Hand oder hält die Hand auf für ihr scheinbar generöses Sponsoring. Die großen Event-Festivals gleichen oft live-inszenierten Werbespots. Ob Bierbrauer, Zigarettenhersteller oder Jeansverkäufer, sie betreiben ihre Geschäfte auf und mit den Open Air-Events. Viele der Kommerz-Festivals zeigen schon im Namen, wem sie gehören und für wen sie Reklame machen.

Ohne das große Geld der Sponsoren lassen sich Mega-Festivals nicht finanzieren, sagen viele Veranstalter - das ist offenbar so. Aber warum müssen Open Air Festivals denn überhaupt dermaßen gigantisch sein? Wer profitiert am meisten vom Gigantismus? Der Veranstalter? Die Sponsoren? Die Künstler, das Publikum? Die am Musikgenuss interessierten Konzertbesucher dürften - wegen der problematischen Klangqualität und der begrenzten Sichtmöglichkeiten - wohl am wenigsten von einem Massenfestival profitieren, obwohl sie das alles finanziert haben.

(Musik aus Werbespot)

Warum also geht man hin zum Open-Air-Konzert? Wird ein Benefiz-Festival nur besucht, weil man Solidarität und Engagement beweisen und sich für einen guten Zweck einsetzen will - wie 1971 beim „Concert For Bangladesh" oder wie beim gigantischen Live-Aid-Festival, 1983 veranstaltet zugunsten der Hungernden in Afrika und weltweit von 1,5 Milliarden Fernsehzuschauern verfolgt?

Geht man zu einem der vielen Umsonst & Draußen-Festivals, nur weil es keinen Eintritt kostet?

Geht man hin, nur weil es sich um ein gesellschaftliches Ereignis handelt oder weil hier der Wind der Geschichte weht, wie etwa bei den Open Air-Veranstaltungen für Amnesty International, oder dem „Free Nelson Mandela"-Konzert von 1988 oder bei dem Spektakel „The Wall live", als  nach dem Fall der Mauer Roger Waters in Berlin im Juli 1990 sein Pink Floyd-Opus „The Wall" vor 250 Tausend Zuschauern aufführte?

("Another brick in the wall" - Roger Waters "The Wall Live")

Befragt, warum der durchschnittliche Musikfan zu einem Open Air Konzert geht, erhält man folgende Antworten: Auf dem Festivalgelände wäre man wie im Urlaub, es entstehe ein eigener kleiner Kosmos, die letzte Zuflucht vor dem Stress des Alltags, man würde coole Leute treffen, feire eine große Party, sei ein Teil des Ganzen und könne mal so richtig die Sau rauslassen. Es herrsche ein Ausnahmezustand, in dem vieles möglich sei, was draußen so nicht passieren könne, dies gaben jugendliche Open Air-Besucher bei einer Befragung zu Protokoll.

Das Ausrasten und Über-die Stränge-schlagen kann allerdings zu furchtbaren Konsequenzen führen, wie im dänischen Roskilde im Sommer 2000, als acht Festivalbesucher ums Leben kamen, weil übermütige Fans am Bühnenrand schubsten und drückten und hinstürzende Menschen unter sich begruben. Das Festival von Roskilde hatte sein Altamont erlebt, jenes Trauma, das sich auf ewig mit einem Free-Concert der Rolling Stones verbindet, als im Dezember 1969 ein junger Schwarzer von Hells Angels direkt vor der Bühne erstochen wurde.

("Jumpin Jack Flash" Rolling Stones)

Doch auch jedes friedlich verlaufene Open Air -Festival geht dann allzu schnell zu Ende. Die Festivalbesucher haben 30 bis 170 Euro für den Eintritt bezahlt, vielleicht noch die neue DVD der Lieblingsband für 15 Euro auf dem Festivalgelände gekauft, 12 Euro berappt für das Festival-T-Shirt als Andenken. 5 Euro für das Programmheft, 3,50 für einen Becher Zuckerwasser oder Bier, 4 Euro für ne trockene Stulle, 10 bis 50 Euro für die Anreise zum Festivalgelände: Summa summarum im Durchschnitt 100 Euro. Sie haben draußen vorm Eingang in der Schlange gewartet, sie haben drinnen in der Schlange vor den sanitären Einrichtungen gewartet, sie waren 10 bis 50 Tausend Gleichgesinnte unter sich, dicht gedrängt nebeneinander, rauchend, kiffend, trinkend, dösend, redend, zuhörend, das Vorprogramm geduldig absitzend, die Hitze oder den Regenschauer ertragend und die länger als geplant sich hinziehende Umbaupause klaglos hinnehmend. Beim Eindunkeln dann die Sterne und die Stars, zweieinhalb Stunden Powersound, vielleicht ein Schlagzeugsolo, oder ein Gitarrensolo, drei Zugaben und Tausende leuchtende Handys, was früher die flammenden Feuerzeuge waren. Und dann ist der Spuk vorbei. Die Fans sind begeistert, der Moderator vom lokalen Privatradio ist begeistert, der Veranstalter war schon im Voraus begeistert und die Zeitungen werden die Begeisterung übermorgen nachholen; die Blogger Simser und Twitter sind da sehr viel schneller mit dem Begeistert-sein. „Do you feel alright" hatte der Sänger gerufen, "everybody say yeah". Und siehe: alle sagten sie "ja ja ja",  alle fühlten sich prächtig, manche gar high und andere trunken von neuen Eindrücken oder nur von zuviel „Allohol".

Aber was bleibt? Was nehmen die Festival-Besucher mit in ihren Alltag? Im besten Fall die Erfahrung von einer Gegenwelt, in die man sich aus der lustverhehlenden Arbeits- und Alltagswelt immer wieder zur Sommerzeit flüchten kann. Oder: wenn es nichts weiter wäre als die Erinnerung an ein paar erfreulich verbrachte Stunden, womöglich gar mit ein paar intensiven Momenten unter Gleichgesinnten, dann wäre das auch schon eine ganze Menge.

(Grönemeyer live, Publikum singt)

PS: Beobachter der Open Air-Szene nennen immer wieder das Haldern Pop Festival am Niederrhein als Beispiel für ein gelungenes Festival, weil die Zahl der Besucher auf 5000 beschränkt wird, weil sich die Organisatoren dem Prinzip Nachhaltigkeit verpflichtet fühlen, weil „zeitgenössische Themen, intelligente und gefühlsbetonte Musik mit dem existentiellen Lebensgefühl verknüpft" werden und damit „die schon verloren geglaubte Ursprünglichkeit von Musik und ihre emotionalen Wirkungen" live erfahrbar sind.

Das 27. Haldern Pop Festival findet vom 12. bis 14. August 2010 statt. Über 40 internationale Gruppen und Solisten, überwiegend aus der Indie-Popszene, werden auftreten, darunter Sophie Hunger, Portugal.The Man, Mumford & Sons, Detroit Social Club, Beirut etc. (Seit Ende Mai ist das diesjährige Hadern Pop Festival bereits ausverkauft)

Nachtrag: Unter der Überschrift „Der größte Pop-Zirkus Europas - vier tolle Tage feierten Esoteriker, Linke, Künstler und Musiker das Glastonbury-Festival" schreibt Christoph Albrecht-Heider am 29.06.2010 in der FR: „Mit fast 1500 Gruppen und DJs auf mehr als 40 Bühnen ist ‚Glasto' weit mehr als ein Rockfestival, es ist auch Karneval und Kirchentag, Love Parade und Landpartie, Protest und Popkultur, oder auch, um es mit einem beliebten T-Shirt-Aufdruck zu sagen: sex and drugs and sausage roll."

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Frank Zappa / Freak-Genius mit Frack-Habitus

(Fast) alles über die »Urmutter« der Mothers of Invention, über sein Leben, seine Psyche, seine Platten,

aufgezeichnet von Volker Rebell (im Jahre 1977)

Buch-Kapitel in "Rock-Session 1 - Magazin der populären Musik (rororo 7086) erschienen im Rowohlt Taschenbuch-Verlag 1977

»The cheese I have for you is real and very new«

Da stimmen so viele Szenenbeobachter in den Klagegesang auf die musikalisch niedergehende, richtungslos und inspirationsarm gewordene Rockszene ein und lassen die Ausnahme von der Regel generös unter den Tisch fallen. Wandelt man abseits der ausgelatschten Rocktrampelpfade und lässt sich vom Talmiglanz des buntschillernden Ex-und-Hopp-Pop nicht blenden, wird man feststellen, dass die kreativ fruchtbaren Sonderfälle in der Rockeinöde gar nicht so spärlich gesät sind wie oftmals behauptet.

Es gibt sie, jene Rockmusik-Entwicklungen, die sich mehr oder minder losgelöst haben von den festgeschriebenen, standardisierten Formen, Mustern und Schablonen, nach denen etwa die Wegwerfmoden gestrickt sind. Es gibt progressive Tendenzen, die aber dennoch in der afroamerikanischen Rocktradition stehen, diese Tradition jedoch nicht museal bewahrend beweihräuchern, sondern sie benutzen, um sie zu verändern.

Die Zahl der echten Rockinnovatoren mag bescheiden sein, gemessen an den Heerscharen des zurückgebliebenen Fußvolks. Doch die impulsgebende Funktion dieser kleinen radikalen Rockminderheit für die kommerziell auswertenden Nachzügler ist nicht zu unterschätzen.

Eine der schillerndsten, faszinierendsten und widersprüchlichsten Persönlichkeiten im kleinen Häuflein wackerer aufrechter Rockerneuerer ist: Frank Zappa, Jahrgang 40, Rockgröße, Groß-Mutter der MOTHERS OF INVENTION. Er ist die Intelligenzbestie, das Universalgenie, der Zehnkämpfer unter den Rock-Matadoren. In allen Disziplinen ist er zu Hause, in allen Sparten beweist er seine Meisterschaft mit kreativen Höchstleistungen. Ganz oben auf dem Siegertreppchen thront er im Rock-Olymp. Kaum ein Jahr vergeht, in dem er nicht irgendwo in der Rockwelt zum «Musiker des Jahres» gewählt würde.

Über Mangel an Lobeshymnen und verbalen Goldmedaillen braucht sich der Rock-Genius, samt seiner erfindungsreichen Mütter, als Meister halsbrecherischster Kunststücke aus der musikalischen Trickkiste, nie zu beklagen. Wohl aber über die ......  (mehr, bzw. der gesamte Text in aktualisierter Form  in absehbarer Zeit als digitaler Download)

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Linernotes für die DVD/CD-Produktion: „DIAMONDS - an orchestral tribute to The Beatles", eine Veröffentlichung der Beatles Revival Band + Orchestra

01.04.2010

Die Beatles „vergeigen", darf man das? Man darf - wenn es so stimmig und hörenswert in Szene gesetzt und mit so viel Gespür und handwerklichem Können realisiert wird wie vom Beatles Revival Orchestra unter der Leitung von Fritz Heieck. Aber grenzt das nicht an Majestätsbeleidigung, wenn man sich erdreistet, die genialen und auf ewig gültigen Original-Fassungen der Beatles durch Orchesterarrangements im Charakter völlig zu verändern? Schon ab 1965 haben die Beatles selbst ihren Gitarren-Sound durch Hereinnahme ungewohnter Instrumente erweitert. Das Streichquartett im Song „Yesterday" veränderte das Klangspektrum der Beatles - und damit der gesamten Popmusik - nachhaltig. Weitere Streicher- und Orchesterarrangements folgten, um nur die Songs „Eleanor Rigby", „She's Leavin Home", „A Day In The Life" und „I Am The Walrus" zu nennen. Das heißt: die Fab Four haben mit Unterstützung des „fünften Beatle", des Produzenten und Arrangeurs George Martin, den orchestralen (Klang-)Weg schon vorgegeben, den das Beatles Revival Orchestra nur konsequent weiterzugehen brauchte. Doch die Neubearbeitungen von Fritz Heieck gehen noch einen Schritt weiter - und zwar in Richtung Neu- und Umdeutung der Songvorlagen durch eine Neuordnung und -gewichtung der Instrumentierung: so übergibt er z.B. im Song „A Hard Day's Night" die wichtige rhythmische Funktion an die Streicher, die mit präzisem Stakkato eine „konzertante" Rhythmisierung erzeugen, wie sie von Schlagzeug, E-Bass und Rhythmusgitarre niemals hörbar gemacht werden könnte. Die klangprägenden Gitarren-Riffs in Songs wie „I Feel Fine" und „She Loves You" lässt er von Holzbläsern spielen und die psychedelischen Sounds im Song „Lucy In The Sky With Diamonds" werden orchestral umgesetzt und kammermusikalisch veredelt, wobei zusätzlich Gastsängerin Kati Karney mit engelsgleicher Stimme die Diamanten am Himmel funkeln lässt. Und die Beatles Revival Band, die sich die musikalische Federführung mit dem Orchester teilt, tut das, was sie seit über 30 Jahren macht und was sie kann, wie kaum eine andere Band: das klanglich-musikalische Erbe der Beatles kompetent und im besten Sinne traditionsbewusst zu bewahren. Und wenn die Band loslegt, dann ist sie in ihren besten Momenten auch vom mächtigen Orchesterklang nicht zu dominieren.

Paul McCartney dürfte mit den Orchester-Arrangements von Fritz und dem BRO sehr zufrieden sein. Und John Lennon? War er nicht bekannt dafür, ein überzeugter Pomp- und Pathos-Hasser zu sein? Und hielt er es nicht mit Chuck Berry's despektierlicher Klassik-Verspottung: „Roll over Beethoven and tell Tchaikovsky the news"? Aber war es nicht auch der gleiche John Lennon, der George Martin aufforderte, er solle zum Lennon-Schlaflied „Good Night" ein Streicher-Arrangement im Klischee-Stil Hollywoods schreiben, was der Beatles-Produzent dann auch auf gekonnte Weise zu Gehör brachte: die unerträgliche Seichtigkeit des Scheins. Auch Fritz Heiecks Arrangements für das BRO nutzen die Effektmöglichkeiten, die klangliche Grandezza und emotionale Bandbreite eines sinfonischen Klangkörpers. Doch zu den typischen Orchester-Klischees von Kitsch und Pathos hält er stets ausreichend Abstand. Und das hätte wohl auch einem John Lennon gefallen.

Die Musik der Beatles ist heute längst die Klassik der Gegenwart. Was zu beweisen war. Und das ist in dieser Produktion trefflich gelungen.

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Mutter Marias weise Worte

Anmerkungen zum Song „Let It Be"                  VR 12.04.10

Artikel für das Rock-Magazin „eclipsed", Ausgabe Mai 2010, zum 40-jährigen Jubiläum der Veröffentlichung des Songs „Let It Be", Titelstück des letzten Beatles-Albums, das am 8. Mai 1970 erschien. (Die Single „Let It Be" kam bereits am 6. März 1970 auf den Markt. Die Aufnahmen des Songs „Let It Be" begannen am 31.01.1969; die letzten Overdubs fanden am 04.01.1970 statt)

„Lato B" (zu deutsch „B-Seite") - so lautet verballhornt eine exotische Coverversion von „Let It Be", eine a-cappella-Ulknummer der italienischen Band Powerillusi. Paul McCartney's finale Hymne "Let It Be", als letzte Single der Beatles in Europa am 6. März 1970 veröffentlicht, wurde oft gecovert und in viele Sprachen übersetzt.

Würde man „Let It Be" mit „Lass es sein" übersetzen - was oft geschieht - dann wäre das eine Übersetzung im Stile des Heinrich Lübke-Englisch á la „Equal goes it loose" - Gleich geht es los. Oder: „Do You Want To Know A Secret" - Wills du ein Sekret kennen lernen? Richtig übersetzt bedeutet „Let It Be" - wie wir natürlich alle wissen - „Lass es geschehen". Ende 1968, als die Stimmung in der Band einen Tiefpunkt erreichte, schrieb sich Paul McCartney mit diesem Song den Frust von der Seele. Er litt damals ganz besonders unter dem drohenden Ende der Beatles, kämpfte mit Schlafstörungen und war tief verunsichert. In seiner dunkelsten Stunde hatte er eine Vision. Seine Mutter Mary, die an Krebs starb, als er 14 war, erschien ihm im Traum und tröstete ihn mit den Worten „Let It Be - Lass es geschehen".

Der Refrain klang im Nachhinein wie ein melancholischer Abgesang auf die große Ära der Beatles und konnte ebenso verstanden werden als endgültiger Abschied von den 60er Jahren und ihren großen Idealen und Hoffnungen. Doch bevor all die neuen Lebensentwürfe der Sixties scheitern, bevor die überschwänglichen Pläne der Gegenkultur „in my darkest hour" resignativ untergehen, gibt es doch noch einen hoffnungsvollen Lichtstreif am Horizont: „there is still a light that shines on me, ..., let it be." Mutter Marias Worte der Weisheit wurden damals von vielen als quasi-religiöse Botschaft verstanden. Die „katholische Scheinheiligkeit", die John Lennon in Pauls Text heraushörte, fand ihre musikalische Entsprechung in kirchenmusik-ähnlichen Vorhaltakkorden, dem Klang einer sakralen Orgel und der Anmutung eines modernen Gospel. Johns Aversion gegenüber der scheinbar himmlischen Botschaft des Textes drückte sich in seinem spöttischen Spruch unmittelbar vor Beginn des Songs aus. Mit Kinderstimme flachste er: „and now we'd like to do ‘Hark, the Angels come'."

Für alle Beatles-Fans, die nach der Trennung ihrer Helden todtraurig die Köpfe hängen ließen, war „Let It Be" wie ein tröstendes, aufmunterndes Schulterklopfen. Letztlich sind die „weisen Worte" „Let It Be" eine Mischung aus Alltagsphilosophie, Lebenshilfe und Plattitüde - und damit Pop im reinsten Sinne. Lassen wir's geschehen - und lassen wir's dann auch gut sein.

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Das Walross, Ahnherr des Artrock?

Thema: Die Beatles und die Entwicklung des Progressive/Artrock

Artikel für das Rock Magazin „eclipsed", Ausgabe September 2009 (VR 09.07.09)

Die furiose künstlerische Entwicklung der Beatles in den Jahren 1965 bis '68, die atemberaubenden Innovationen klanglicher und musikthematischer Art, vor allem in ihren Alben Revolver, Sgt. Pepper und Magical Mystery Tour, weckten und förderten das wachsende Interesse an artifizieller Popkultur und führten fast zwangsläufig zur Etablierung neuer, experimentierfreudiger und künstlerisch anspruchsvoller Popmusikformen. Die Beatles und niemand sonst gelten zu recht als Ahnherren des Art-Pop. Ohne die genialische Klangfantasie und wagemutige Kreativität von Lennon/McCartney & Co hätten sich wahrscheinlich Neutöner-Bands wie Pink Floyd oder King Crimson, die beide selbst eine Art Nukleus einer Stil- und Sound-Explosion bildeten, nicht im bekannten Ausmaß entfalten können.

Alles begann mit dem Wetteifer zweier begabter, ehrgeiziger Jungspunde. Die kreative Rivalität zwischen den Freunden und künstlerischen Konkurrenten John Lennon und Paul McCartney setzte schöpferisch-gestalterische Energien frei, die alles bisher Dagewesene über den Haufen werfen und Form und Inhalt der Popmusik völlig verändern sollten.

Förderlich für die stetige Weiterentwicklung der Beatles-Musik waren bestimmte Eigenarten der beiden Anführer: Pauls Hang zu Perfektionismus, seine ausgeprägte Neugier und seine Abneigung gegenüber Wiederholungen - und auf der anderen Seite: Johns fatale Ungeduld und seine starke Neigung zu außergewöhnlichen Experimenten und „spinnerten" Ideen, die noch verstärkt wurden durch seine Bewunderung für seine große Liebe, die Avantgarde-Künstlerin Yoko Ono, die seine Kreativität ungemein beflügelte - mitunter bis ins Extreme, Abstruse. Auf jeden Fall wurde Lennons Eigensinn und seine Freude an unüblichen und komplexeren Ausdrucksformen durch Yoko Onos Einfluss befördert. Und dann war da noch der Dritte im Bunde, der die Außenseiterrolle, als Songschreiber nur dritte Wahl zu sein, allmählich leid war. Die allmählich sich steigernde künstlerische Entwicklung von George Harrison erhöhte das musikalische Potenzial im kreativen Spannungsfeld der Beatles.

Den Startschuss für die Entwicklung des Art-Pop und aller verwandter progressiver Stilrichtungen lieferte Revolver, das erste psychedelische Album der Beatles vom August 1966. Vor allem der Schlusstitel Tomorrow Never Knows kann mit seiner geradezu revolutionären Klanggestalt als Initialzündung angesehen werden für die Soundexperimente des ab 1967/68 sich herausbildenden progressiven Art-Rock. Phil Collins coverte Tomorrow Never Knows für sein erstes Solo-Album Face Value von 1981. Als 13-jähriger war Phil Collins übrigens im ersten Beatles-Film A Hard Days Night als einer von Hunderten kreischender Teenies zu sehen (während der TV-Konzert-Sequenz). Die frühen Genesis waren konzeptionell und kompositorisch stark von den späten Beatles-Alben beeinflusst, coverten aber nie einen Beatles-Song. Peter Gabriel interpretierte den genialen Lennon-Song Strawberry Fields Forever in seiner frühen Solo-Ära.

Die Mellotron-Klänge von Strawberry Fields Forever wurden von Moody Blues und Ten CC kopiert, inspirierten aber auch King Crimson, die von Kritikern als „The next Beatles" gefeiert wurden, weil deren Debütalbum In The Court Of The Crimson King, veröffentlicht im Oktober 1969, mit seinen Sgt-Pepper-ähnlichen Soundcollagen als Fortschreibung der Beatles-Kunstwerke verstanden wurde.

Nicht nur aus Musikerkreisen von King Crimson, auch von vielen späteren Art- und Prog-Rockern ist darüberhinaus der fantastische Beatles-Klangtrip I Am The Walrus als entscheidender Einfluss genannt worden. Von Frank Zappa gibt es eine kongeniale Walrus-Fassung, live eingespielt auf seiner letzten Tour 1988. Das kakophonische Crescendo von A Day In The Life eröffnete vielen progressiv eingestellten Musikern eine neue Klangwelt. Danach schien im Pop alles möglich. Und mit der revolutionären Sound-Collage Revolution 9 aus dem Weißen Album waren die letzten Grenzen zur Avantgarde gefallen.

Die Premium-Band des Art Rock Gentle Giant bezog Inspiration für ihre vertrackten Chorarrangements und komplexen Rhythmus-Strukturen aus Beatles-Klassikern wie Happiness Is A Warm Gun, Here Comes The Sun u.a., wie die Shulman-Brüder in einem hr-Interview erzählten.

Die Artrock-Pioniere Yes überraschten in ihrem Debütalbum von 1969 mit einer ebenso verfremdeten wie veredelten Neufassung des eher banalen frühen Beatles-Songs Every Little Thing - eine aufschlussreiche Demonstration, wie sich Beatles-Elemente im Stil des Artrock verarbeiten lassen. Ganz ähnlich klingt auch so manche beatle-eske Artrock-Komposition jüngeren Datums, etwa von Porcupine Tree, der britischen Progrock-Band um Mastermind Steven Wilson, der ebenso bekennender Beatles-Fan ist wie Neal Morse, bis 2002 Kopf der US-amerikanischen Band Spock's Beard, in deren Musik Beatles-Themen fast allgegenwärtig sind. Nicht minder in den Songschöpfungen der Allstar-Band des Prog TransAtlantic, die u. a. von Neal Morse ins Leben gerufen wurde und die live regelmäßig ambitionierte Coverversionen von Beatles-Klassikern aufführt. So enthält deren Album Live In America großartige Interpretationen von Magical Mystery Tour und Strawberry Fields Forever. Für die DVD Live in Europe wurde ein Beatles-Abbey Road-Medley eingespielt. Zur Prog-Supergroup TransAtlantic gehört auch der Sänger/Gitarrist Roine Stolt, „hauptberuflich" Kopf der schwedischen Retro-Prog-Band The Flower Kings. Es versteht sich fast von selbst, dass auch deren Stilistik am dreistimmigen Gesang und an der Kompositionstechnik der Beatles orientiert ist.

Und um noch ein weiteres Beispiel zu nennen: Ty Tabor, Sänger, Gitarrist und Keyboarder der US-amerikanischen Hardrock-Band King's X macht auf seinen Soloalben immer wieder hörbar, wie die Beatles heute klingen könnten, wenn sie den Lennon-Weg über Yer Blues, Come Together und I Want You - She's So Heavy weiter gegangen wären und sich in Richtung progressivem Hardrock entwickelt hätten.

Ohne die Beatles würden vielleicht manche der progressiven Bands nicht existieren, auf jeden Fall würde vieles heute anders klingen.

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Das musikalische Weißbuch der Sixties

Anmerkungen zum Album: The Beatles (White Album) (1968)

Artikel für das Rock Magazin „eclipsed", Ausgabe September 2009 (VR 30.06.09)

Die Frage, auf welcher Stufe der Qualitäts-Treppe das Weiße Album im Werke-Katalog der Beatles einzuordnen ist, beschäftigt die Beatles-Exegeten seit dem Erscheinungsdatum am 22.11.1968.

Das epochale Sgt. Pepper-Album vom Jahr zuvor, das von vielen als Zeitenwende in der Popkultur, gar als musikalisches Jahrhundertereignis hochgejubelt wurde, hatte Maßstäbe gesetzt - auch für die Beatles. Konnte ihr 17 Monate später veröffentlichtes Folgealbum, die Doppel-LP „The Beatles", nahtlos daran anknüpfen? „Für mich persönlich ist das Weiße Album das bessere geworden", gab Ringo in der „Beatles Anthology" zu Protokoll. Mit dieser Meinung stand Ringo zwar nicht alleine, aber widersprechende Stimmen waren nicht zu überhören. Wo ist das Neue, noch nicht Dagewesene, bislang Ungehörte? - fragten mit unüberhörbarer Enttäuschung all die Beatles-Anhänger, die auf neue Klangerforschungen und Themenentdeckungen in einer experimentierfreudigen Fortsetzung von „Revolver" und „Sgt. Pepper" gehofft hatten. Nein, diese Bedürfnisse bedient das Weiße Album tatsächlich nicht. Doch ist das Album deshalb eine Enttäuschung? Im Buch „The Beatles Anthology" wird Paul McCartney mit dem Ausspruch zitiert: „Man kann auch gute Musik machen, ohne sich ständig weiterzuentwickeln." Recht hat er. Die Behauptung, das Weiße Album sei rückschrittlich und biete nichts Neues, ist nicht zutreffend.

Neu sind vor allem zwei Dinge, die so bisher nie in diesem Ausmaß und in dieser Qualität auf einem Album der Beatles (oder von sonst irgendwem) festzustellen waren: zum einen das Füllhorn der Stile und Genres und zum anderen der Tonfall von Ironie und Parodie, das Augenzwinkern zwischen den Zeilen und Tönen. Die Beatles erfinden den Zitat-Pop, den Song-Eklektizismus und den Allround-Sound des Alles-geht-und-alles-passt-Zusammen. Sie stoßen die Türen nach allen Seiten auf und profilieren sich als Alleskönner und stilistische Universalisten.

Wer außer ihnen hat auf einem Album so viel zu bieten: Psychedelia, Rock 'n' Roll, Bluesrock, Hard- & Heavy Rock, Ragtime, Ska, Folk, Country, Rumba, Progressive Artrock, Singer/Songwriter-Ballade und Avantgarde? Die amerikanische Rockbibel Rolling Stone spricht von einer „Gesamtschau der Geschichte und Synthese westlicher Musik". Und John Robertson nennt das Album ganz ähnlich „eine handliche Geschichte der populären Musik seit 1920".

Erstaunlich, dass die Beatles dieses letztlich in sich stimmige und überzeugende Album überhaupt hinbekommen haben. Denn die Stimmung bei den Aufnahme-Sessions war erstaunlich oft angespannt bis gereizt, nicht selten gar vergiftet. Die bislang unschlagbare Viererkette begann sich aufzulösen. Der Grund dafür war weniger die ständige Anwesenheit und Einmischung von Yoko Ono im Studio, sondern vielmehr die zunehmende Individuierung und der wachsende Egoismus der vier Persönlichkeiten. Das Quartett, das sich von seiner Fab Four-Vergangenheit endlich befreien wollte, zerbrach in seine Einzelteile, in vier Solo-Künstler. „Nehmen Sie irgendeinen Track - es war ich und eine Begleitband, Paul und eine Begleitband. Es hat mir Spaß gemacht, aber danach sind wir auseinandergegangen." (John Lennon, zitiert nach „The Beatles Anthology")

So egozentrisch die Akteure gewesen sein mögen, so grauslich auch immer das Binnenklima in der Band sich nach außen, für die Beobachter, darstellen mochte - die vier Teilzeitfreunde/‑feinde konnten nicht ständig so furchtbar verkracht oder spinnefeind gewesen sein, wie es von allen Seiten kolportiert wurde. Sonst hätten sie letztlich nicht ein solch großartiges Endprodukt gemeinsam hinbekommen. Denn was am Ende aus der Plattenrille ertönte, das war kein Krieg der Klänge, Töne und Egos, sondern ein überzeugendes und in höchstem Maße kreatives und stimmiges Gruppenprodukt von vier Individualisten.

Der Grund für die Gitarrenlastigkeit des Albums und für die erstaunliche Häufung von folkähnlichen Songstrukturen in schlichten Arrangements ist die Tatsache, dass die meisten Songs im nordindischen Rishikesh entstanden während die Beatles im Ashram ihres neuen Gurus Maharishi Mahesh Yogi in die Technik und Philosophie der fernöstlichen Meditation eingewiesen wurden. Weil John, Paul und George nur ihre Akustikgitarren dabeihatten, deshalb waren alle kompositorischen Ideen und Songs, die in Rishikesh entstanden, naturgemäß reduziert auf die eingeschränkten musikalischen Möglichkeiten einer Wandergitarre.

Auch das in schlichtem Weiß gehaltene Albumcover mit der grafischen Reduzierung auf den Schriftzug „The Beatles" in hervorstehender Blindprägung stand im totalen Kontrast zum überbordenden Farbenrausch des detailreich collagierten Sgt. Pepper-Covers.

Das Weiße Album ist in seiner Widersprüchlichkeit und Inkonsistenz, in der bunten bis fahrigen Mischung aus (etlichen) grandiosen Firstclass-Songs und (ein paar) dürftigen, fast hingeschusterten Songs der B- und C-Kategorie, in der eklektischen Vielgestaltigkeit - exzessiv betrieben fast bis zur Beliebigkeit -, im Kontrast zwischen leisen, empfindsamen Liedern und gewaltvoll-lärmenden Verzerrer-Orgien, in all dieser Zerreißspannung, die während der gesamten Produktion in den Köpfen und Herzen der Beteiligten virulent ist, ein Abgesang auf die naive Hippie-Seligkeit des Summer Of Love. Und in seiner indifferenten Standortbestimmung ist dieses unvergleichliche Album auch ein suchender, vager Vorgriff auf ein undefiniertes Anderswerden und damit ein stimmig klingendes Pop-Zeitdokument des chaotischen, tumultuösen, aufregenden, die Welt und das Bewusstsein von ihr verändernden Jahres 1968.


- Charts: Einstieg wann?  
22. November 1968

- höchste Chartplatzierung   D /GB/USA: Platz 1

evtl. Zeitraum der Chartnotierung (= wie lange war die Platte in den Charts)
in GB stand das Album 7 Wochen lang auf Platz 1 und war insgesamt 14 Wochen in den britischen LP-Charts notiert. In den USA stand das Album 9 Wochen lang an der Spitze und wurde 155 Wochen lang in den Billboard 200 geführt.

- Studio(s): Name/Ort/
Abbey Road Studios, London und Trident Studios, London (nur: „Dear Prudence", „Martha My Dear", „Honey Pie" und „Savoy Truffle". Alle restlichen Songs wurden in den Abbey Road Studios aufgenommen)

- Zeitraum der Aufnahme: vom 30.05. bis 17.10.1968

- Name des Produzenten
George Martin, Chris Thomas, Paul McCartney (nur bei „Why Don't We Do It In The Road")

- Name des Artworkkünstlers:  Richard Hamilton

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Variationen über die Liebe

in Songs und Moderationen aus hr3-Rebell-Sendungen
(Zitate aus Sende- Manuskripten vom Mai bis August 2005)